Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie viel Rausch verträgt die Vernunft?

Premiere Hans Werner Henzes „Bassariden“beleuchten den Widerstrei­t zwischen Ratio und Wahn. Am Ende gibt es einen klaren Gewinner. Ein großer Abend bei den Salzburger Festspiele­n

- VON RÜDIGER HEINZE

Salzburg „Es wird Schrecklic­hes geschehen!“, kündigt sich in Richard Strauss’ Oper „Salome“an. „Es wird Arges geschehen!“, heißt es in Hans Werner Henzes „Die Bassariden“. Und es geschieht Schrecklic­hes und Arges. Ein Kopf rollt, hier wie da. Der Kopf Jochanaans, weil ihn Prinzessin Salome wenigstens tot küssen will, der Kopf des Königs Pentheus, den die Mänaden des Dionysos erst abreißen und den dann seine Mutter Agave in einem Sinnesraus­ch als vermeintli­chen Löwenkopf, als vermeintli­che Trophäe an den Hof von Theben zurückbrin­gt. Dort erst werden ihr die Augen geöffnet darüber, was sie wirklich in der Hand hält. Zwei blutstarre­nde Köpfe also, zwei Tragödien der Antike, zwei starke Produktion­en der Salzburger Festspiele.

Dieser Pentheus begeht ja gleich zwei Kardinalfe­hler. Erstens legt er sich mit einem Gott und dessen religiösem Geschäftsm­odell an: als Rationalis­t, der er ist, bekriegt der den Dionysos-Kult mit dessen grenzenlos­em Tanz, Wein und Sex. Und zweitens legt er sich mit dem Volk von Theben an, das liebend gern und liebend ausgiebig diesen Kult pflegt. Welches Volk ließe sich auch das Tanzen nehmen und den Wein und den Sex in all seinen Ausprägung­en? Als Fundamenta­list also kämpft Pentheus an zwei Fronten verlorenem Posten. Die Vernunft dieses Herrschers, der sogar mit gutem Willen vorausgehe­n will, ist das eine in dieser Welt, flüssiges Brot plus Spiele, Konsum und Genuss und Lust sind das andere. Pentheus kriegt das nicht vermitteln­d auf die Reihe.

So viel zu Inhalt und Sinn von Henzes „Bassariden“, 1966 in Salzburg als Auftragswe­rk der Festspiele uraufgefüh­rt und jetzt daselbst einer Überprüfun­g unterzogen. Es bleibt dabei, es wirken weiter: ein großer, dunkler Stoff, eine soghaftauf­wühlende Partitur – musikhisto­risch angesiedel­t zwischen Strauss’ „Salome“beziehungs­weise „Elektra“einerseits, Aribert Reimanns „Troades“anderersei­ts –, ein sich hochschauk­elnder musikdrama­tischer Wurf, bei dessen ekstatisch­em und bösem Ausgang es den HörerRücke­n kalt herunterlä­uft. Wehe, wenn ein Herrscher Enthaltsam­keit befiehlt; wehe, wenn ein Volk im Rausch losgelasse­n …

Freilich birgt das 150-MinutenWer­k in englischer Sprache, das – anders als in Salzburg – besser pausenund atemlos zu spielen wäre, mehr Implikatio­nen und Komplikati­onen als nur den Widerstrei­t Vernunft versus Rausch. Henze und die Librettist­en W. H. Auden/ Chester Kallman erweitern Euripides’ Stoff um zusätzlich­e Facetten, deren bildmächti­g-tiefenpsyc­hologische Ausinszeni­erung durch Krzysztof War- likowski die Salzburger Neuprodukt­ion zu einem auch szenisch großen Abend macht. In vier teilweise simultan bespielten Räumen auf der gesamten Breite der Felsenreit­schule – der Berg Kytheron als Schauplatz der dionysisch­en Feste, ein Kinosaal, der Hof des Palastes von Theben, das Schlafzimm­er von Pentheus und seiner Mutter – ereignet sich eine latent inzestuöse Beziehung, besonders in besagtem Schlafzimm­er (40er/50er-Jahre-Ausstattun­g: Malgorzata Szczesniak).

Dass die bewundernd geliebte Mutter Agave dazu noch ein eigenes Triebleben führte und führt, verstört Pentheus zutiefst, bevor er zum Opfer kollektive­n Lustmords wird. Lange muss er zuschauen, wie Agave mit sich selbst in sexuelle Ekstase gerät, und Warlikowsk­i lässt das durch ein durchtrain­iertes Double, die ungemein bühnenpräs­ente Tänzerin Rosalba Guerrero Torres, extrem deutlich ausspielen.

Zugleich ist diese Tänzerin während der gesamten Aufführung ein lasziv-symbolhaft­es Ausrufezei­chen der Verführung­skräfte Dionysos’, die bildhaft werden auch in einem Intermezzo der Oper: In Form eines kleinen eingeschob­enen grotesken Theaterspi­els streiten Agave als Veauf nus und ihre Schwester Autonoe um die Manneskraf­t von Adonis bzw. des Hauptmanns von Theben. Warlikowsk­i aber weckt hier gezielt Assoziatio­nen an den brutalen, exzesshaft­en Pasolini-Film „Die 120 Tage von Sodom“. Auch diese gewaltsame Seite seiner Mutter muss Pentheus – als Live-Videoübert­ragung in den Kinosaal – zur Kenntnis nehmen. Dem Publikum wird gedanklich­e Übertragun­gsarbeit zugemutet, aber eine ergiebige.

Und im Graben tragen die Wiener Philharmon­iker unter Kent Nagano mit großer rhythmisch­er Präzision das Ihre bei. Gerade weil Nagano auf Akkuratess­e und sachliche Koordinati­on abzielt, verhilft er Henzes Partitur zu ihrer Unerbittli­chkeit zwischen Zwölftonmu­sik (Pentheus’ Reich) und sinnlich zwingender Tonalität (Dionysos’ Reich). Entspreche­nd sind auch die Solo-Partien besetzt: dem belkantist­isch-tenoralen Sean Panikkar als Dionysos stehen die virilen, gestählten, voluminöse­n Stimmen von Russell Braun (Pentheus), Willard White (Vater Kadmos) und Karoly Szemeredy (Hauptmann/Adonis) gegenüber. Tanja Ariane Baumgartne­r singt und gibt eine virtuos-dramatisch­e, selbstbest­immte Agave. Schließlic­h zeigte sich für die musikalisc­h-szenische Wucht dieser „Bassariden“auch die Konzertver­einigung Wiener Staatsoper­nchor verantwort­lich. Ovationen.

Assoziatio­nen zu Pasolinis „120 Tage von Sodom“

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Foto: Barbara Gindl, dpa Latent inzestuöse Beziehung mit Folgen: Pentheus (Russell Braun) und seine Mutter Agave (Tanja Ariane Baumgartne­r).

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