Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (120)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Guttenberg
Er erwog den Gedanken zu fliehen, nach Hamburg, nach Berlin, wo man nichts von ihm wußte, wo er untertauchen konnte, aber da war die Chance beim Direktor, die er nicht preisgeben mochte, da war der Ehrgeiz, diesen Kerlen nicht zu weichen.
Aber er war immer verzweifelt. Er wußte längst nicht mehr, wie er dies ertragen konnte. Er ging zusammengefallen, gelb, durch den Tag, er schlief nachts nicht, ohne an seinem eigenen Geschrei schreckvoll zu erwachen. Die ganze Welt war sein Feind, und aufatmen konnte er nur, sicher war er nur die kargen Minuten, da er durch die Pforte der Gefangenenanstalt zum Besuch beim Direktor eingelassen worden war.
Dort wurde er vertröstet.
In der letzten Zeit hatte es damit angefangen, daß jeden Morgen, wenn Bruhn zur Arbeit kam, sein Werktisch mit Kot beschmutzt war. Er war richtig bestrichen damit, Bruhn hatte unter dem schreienden
Protest der andern jeden Morgen eine halbe Stunde Wasser zu tragen, zu wischen, zu scheuern, ehe er mit der Arbeit anfangen konnte.
Bruhn mochte so früh kommen, wie er wollte: sein Werktisch war verdreckt.
Bruhn beschwerte sich bei der Leitung, man ließ ihm sagen, der Nachtwächter habe noch um halb sieben seinen Tisch sauber gefunden, er möge gefälligst pünktlich zur Arbeit kommen und im übrigen sich so führen, daß zu solchen Bubenstreichen gegen ihn keine Veranlassung bestehe.
Bruhn war es klar, hier bestand ein Komplott, und es war nur möglich, es aufzudecken, wenn er nachts in der Fabrik den Täter selbst erwischte.
Eines Nachts stieg er ein in die Fabrik.
7
Das Einsteigen war leicht. Die Fabrik stieß mit ihrer Hinterfront an eine kleine, nachts kaum belebte Gasse. Löschte man dort die einzige Gaslaterne, so konnte man in aller Ruhe über die nicht sehr hohe Mauer klettern und war auf dem Hof.
Bruhn löschte die Gaslaterne und stieg über. Die Hunde, die auf den Nachtwächter warteten – es war noch nicht neun Uhr –, schlugen einmal an und kamen dann winselnd zu ihm: sie kannten ihn gut aus den Nächten, da er regelmäßig übergestiegen war, um die Ablieferung zu verderben.
Er gab ihnen etwas Brot, warf einen Blick auf die vierstöckige Front der Fabrik, die sich über ihm dunkel, in den sternenlosen Nachthimmel tauchend, aufbaute. Er stutzte: im Lohnbüro brannte noch eine Lampe.
Einen Augenblick stand er und überlegte. Aber dann kam er darauf, daß man sicher vergessen hatte, das Licht auszumachen – wer sollte um diese Zeit noch auf dem Lohnbüro sein? Er holte die Nachschlüssel hervor, die er auch noch von damals besaß, schloß die Tür sachte auf, scheuchte die Hunde fort und schloß drinnen sofort wieder ab.
Wieder stand er einen Augenblick lauschend, dann zog er seine Schuhe aus, versteckte sie hinter einem Bretterstoß und ging langsam den Gang zu den Werkstätten. Es war ziemlich dunkel hier und Bruhn wagte nicht, Licht anzumachen, der Wächter kam immer um neun herum und konnte den Lichtschimmer immer an irgendeinem Fenster entdecken. Aber er tastete sich an der Wand entlang, bekam richtig die Stiegenstufen nach oben unter die Füße und stieg langsam und vorsichtig empor.
Die Treppenstufen knarrten, aber das bedeutete nichts, in der Fabrik war so viel Holz verbaut, das sich in den Winternächten, wenn die Heizung ausging, knackend zusammenzog: niemand konnte über Knarren und Knacken unruhig werden.
Bruhn stand an der Tür zum Fallennestersaal. Er holte den zweiten Schlüssel hervor, suchte mit dem Finger, fand das Schlüsselloch, stieß den Schlüssel ein und schloß. Die Zuhalte sprang zurück, Bruhn hörte sie knacken, er legte die Hand auf den Türgriff, er gab nach, aber die Tür ging nicht auf.
Er drückte noch einmal, und wieder ging die Tür nicht auf.
Einen Augenblick stand er überlegend da, dann fingen seine Hände an, die Tür abzutasten: es mußte etwas sein, was sie noch immer zuhielt.
Plötzlich hielt er inne. Ihm war der Gedanke gekommen, der andere, jener verfluchte andere hielte die Tür von innen zu. Er stand lautlos, er lauschte. Nichts, nur sein Herz ging langsam und wie träge, dazu das eilige, feine Ticken der Taschenuhr.
Die Welle von Angst war vorüber: wie konnte der zuhalten, da der Türgriff nachgab? Bruhn suchte von neuem. Er wurde im Dunkeln nicht schlau, da war etwas wie ein ganz kleines Loch über der Klinke, während das eigentliche Schlüsselloch unter der Klinke saß – was war das? Er mußte schnell einmal den Lichtschein seiner Taschenlampe darüber werfen.
Er tat es. Ja, es war wie er gefürchtet hatte. Man war wohl der ewigen Schmiereien, des widerlichen Gestankes müde geworden, man hatte ein zweites Schloß, ein Sicherheitsschloß über der Klinke angebracht. Er konnte nach Haus gehen, Kania kam nicht, Kania wußte das sicher, er erwischte ihn nicht, die Auseinandersetzung war wieder vertagt.
Eine grenzenlose, erbitterte Wut erfüllte ihn. Morgen würde es sicher wieder etwas Neues geben, eine andere Gemeinheit, von Kania erdacht, unter dem Beifall der ganzen Arbeiterschaft durchgeführt – und er hätte so schön heute mit dem Kerl abrechnen können! Hätten die nicht noch einen Tag mit ihrem dämlichen Yaleschloß warten können?
Er hielt inne. Wer sagte denn, daß das Schloß heute erst drangekommen war?
Am Tage war es nicht zu sehen, da stand die Tür immer weit auf, damit die Karren mit dem Holz durchfahren konnten, das Schloß mochte schon länger daran sitzen. Und Kania kam doch herein, das war ja Schwindel, daß der Wächter um halb sieben seine Bank revidiert und sauber gefunden hatte! Kania hatte Helfer – vielleicht gab der Wärter ihm selbst den Schlüssel?
Bruhn hatte vor Kanias Bude am frühen Morgen aufgepaßt, nein, Kania war so früh nicht in der Fabrik gewesen, um drei Viertel sieben erst kam er aus seiner Wohnung, es war gelogen, daß die Bank noch um halb sieben sauber gewesen war! Aber was half ihm das alles? Er konnte hier nicht stehen und auf Kania warten.
Der Wärter fand ihn, Kania sah ihn schon von weitem, Bruhn konnte sich auf eine offene Prügelei mit ihnen nicht einlassen, er mußte Kania überfallen bei seinem Tun, er mußte sich verstecken!
Eine Weile stand er da und dachte nach.
Nein, es war zu ungewiß, auf welchem Wege Kania bis hierher kam. Bruhn konnte sich weder unten im Gang noch auf der Bühne des Maschinenraums verstecken.
»121. Fortsetzung folgt