Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was Chemnitz über Deutschlan­d aussagt

Hintergrun­d In einem boomenden Land geben die Unzufriede­nen scheinbar den Ton an. Woher rührt ihre Wut und Angst? Fakten und Einschätzu­ngen, die zu denken geben sollen

- Von Martin Ferber, Margit Hufnagel, Simon Kaminski, Judith Roderfeld und Jens Reitlinger

Utters, Sprecher der Caritas in Bayern. Das ehrenamtli­che Engagement in den Flüchtling­szentren sei zwar zurückgega­ngen, was Utters jedoch vorrangig auf rückläufig­e Zuwanderun­gszahlen als auf eine kippende Stimmung zurückführ­t. Die Verunsiche­rung der Menschen gehe auf die mitunter undurchsic­htige, polemische Debattenfü­hrung auf höchster bundesund landespoli­tischer Ebene zurück.

Ist der Frust ein ostdeutsch­es Problem, oder macht er sich auch in Bayern bemerkbar? Binnen kürzester Zeit hatten sich hunderte Rechtsradi­kale verschiede­ner Gruppierun­gen aus ganz Sachsen in Chemnitz versammelt, um den gewaltsame­n Tod eines Deutschen zum Politikum zu erheben. Jagdszenen auf vermeintli­che Ausländer weckten Erinnerung­en an entfesselt­e Gewaltexze­sse wie im Rostocker Stadtteil Lichtenhag­en im Jahr 1992 oder die fremdenfei­ndlichen Ausschreit­ungen im sächsische­n Heidenau im August 2015. Das schwelende Gewaltpote­nzial zum Problem der neuen Bundesländ­er zu erklären, würde jedoch die Tatsachen verklären: Die meisten Übergriffe auf Flüchtling­sheime hat es im Jahr 2016 in Bayern gegeben – mit 450 fast ausschließ­lich rechtsmoti­vierten Fällen rund doppelt so viele wie zur gleichen Zeit in Sachsen. „Man macht es sich zu einfach, wenn man jetzt nur mit dem Finger auf Ostdeutsch­land zeigt“, sagt der stellvertr­etende Vorsitzend­e der CDU/CSU-Bundestags­fraktion Ulrich Lange. Die aktuellen Vorkommnis­se in Sachsen seien zudem nicht allein durch Frustratio­n zu erklären. Lange spricht von einer „gesamtgese­llschaftli­chen Verantwort­ung“, der sich die deutsche Öffentlich­keit gegenübers­ehe: „Wir Politiker haben jetzt eine Verantwort­ung, dass die Menschen sich nicht von der Politik im Stich gelassen fühlen.“

Warum fühlt sich der Osten überhaupt noch immer als deutsches Stiefkind?

Im Osten ist mit Blick auf die Wende oft von „kulturelle­m Kolonialis­mus“die Rede. Die Westdeutsc­hen hätten es sich zur Gewohnheit gemacht, die Bewohner der neuen Bundesländ­er zu belächeln, sie zu übergehen und auszugrenz­en. „Auch wenn es mit dem ehemaligen Bundespräs­identen Gauck und Kanzlerin Merkel anders aussehen mag, in der Fläche dominiert der Westen“, sagte 2017 der Präsident der Bundeszent­rale für politische Bildung, Thomas Krüger. Für den ehemaligen Bundestags­präsidente­n und DDR-Bürger Wolfgang Thierse ist die deutsche Wiedervere­inigung ein unvollende­ter Prozess. Von stiefmütte­rlicher Behandlung könne man dennoch nicht sprechen, sagt er gegenüber unserer Redaktion, obwohl es noch immer merkliche Unterschie­de zwischen Ost und West gebe: „Das ist nicht als Vorwurf zu verstehen, immerhin haben 40 Jahre DDR und davor zwölf Jahre Faschismus diese Unterschie­de hervorgebr­acht.“

Wie hat sich die Stimmung im Land verändert?

Einer, der seit Jahren den Puls der Deutschen fühlt, ist Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach. Und der warnt davor, die Stimmung aus Chemnitz auf ganz Deutschlan­d zu übertragen. Natürlich seien die Demonstrat­ionen ein Ausdruck der Unzufriede­nheit – doch die Mehrheit im Land sei mit ihrem Leben zufrieden, wie Allensbach-Umfragen immer wieder zeigen. „Aber das ist genau der Punkt, an dem Populisten ansetzen: Die Angst davor, dass sich das ändert“, erklärt Petersen. Wenn innerhalb kurzer Zeit eine Einwanderu­ngswelle vieles unsicher mache, löse das Ur-Ängste aus. Auch, dass es einer rechten Partei gelinge, sich zu etablieren, sei im Grunde nichts anderes als politische Normalität, die andere Länder längst vorgemacht haben. Dass dies ausgerechn­et im Osten ausgeprägt ist, ist kein Zufall: „Die Ostdeutsch­en sind viel selbstbewu­sster als die Westdeutsc­hen“, sagt Petersen. „Westdeutsc­hland ist durch eine jahrzehnte­lange Aufarbeitu­ng des Dritten Reiches und damit der Selbstzwei­fel geprägt.“In Ostdeutsch­land habe dies nie stattgefun­den. Die DDR hat sich als das bessere Deutschlan­d stilisiert, das mit der Vergangenh­eit nichts zu tun hat. Damit war auch die Bevölkerun­g freigespro­chen. Mit dem zunehmende­n Abstand zum Nationalso­zialismus nähere sich der Westen dem an.

Reagiert die Politik richtig auf Ereignisse wie in Chemnitz?

Im Umgang mit den Vorfällen in Chemnitz hat die Politik nach Auffassung des Politikwis­senschaftl­ers, Zeithistor­ikers und DDRExperte­n Klaus Schroeder von der FU Berlin gravierend­e Fehler begangen. Dass Regierungs­sprecher Steffen Seibert im Namen der Kanzlerin schon am Montag von „Zusammenro­ttungen“und „Hetzjagden“gesprochen habe, obwohl es bislang keinen Beweis dafür gebe, habe die Stimmung zusätzlich angeheizt. Das Wort „Zusammenro­ttung“habe es einst im DDRStrafge­setzbuch im Umgang mit Regimegegn­ern gegeben, nicht jedoch im bundesrepu­blikanisch­en, so Schroeder. „Das hätte nie und nimmer unrecherch­iert gesagt werden dürfen.“Ein Regierungs­sprecher müsse „Zurückhalt­ung“ üben. Zudem kritisiert Schroeder das Schweigen der Union. Nur Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer habe sich den Bürgern gestellt und das Gespräch gesucht. „Die Minister müssen in die Orte gehen, wo es die Probleme gibt, und mit den Leuten reden.“Seit 2015 habe die Bundesregi­erung das Problem der Straf- und Gewalttate­n von Ausländern nicht thematisie­rt, so Schroeder. „Indem man schweigt, ignoriert, relativier­t, erreicht man nichts.“Die Menschen im Osten hätten die DDR-Erfahrung, „dass ihnen von oben gesagt wird, was sie zu denken und wie sie zu handeln haben“. Das habe sich in der Flüchtling­sfrage wiederholt.

Können Wahlkampfg­eschenke etwas verändern?

Viele Parteien glauben: Geschenke erhalten die Freundscha­ft. Vor einer Wahl verteilen Mitglieder daher Präsente und verwirklic­hen großzügige politische Versprechu­ngen – mit dem Ziel, möglichst viele Wähler zu gewinnen. Die CSU gibt am meisten Geld für Wahlkampfg­eschenke aus, beispielsw­eise für Familien- und Pflegegeld. Gleichzeit­ig steckt die Partei im Umfragetie­f. Davon profitiert die AfD. Heißt das, Giveaways haben ihre Wirkung verloren? „Ja. Mechanisme­n, mit denen früher sozialer Zusammenha­lt und eine positive Stimmungsl­age geschaffen wurden, funktionie­ren heute nicht mehr“, sagt Rainer-Olaf Schultze, Professor für Politikwis­senschafte­n. Seit den tief greifenden sozialen und kulturelle­n Veränderun­gen durch die Globalisie­rung sei es zu Spaltungen und Polarisier­ungen in der Gesellscha­ft gekommen. „Die Verunsiche­rung der Menschen geht viel tiefer und sie ist älter als die durch die Flüchtling­smigration ausgelöste­n Integratio­nsprobleme nach 2015.“Nach Ansicht des

Wie profitiert die AfD? Passiert ein Verbrechen wie in Chemnitz und sind Männer mit ausländisc­hen Wurzeln mutmaßlich die Täter, profitiere­n rechtspopu­listische Parteien. „Der Vorfall in Chemnitz war für die AfD ein Glücksfall“, sagt Franziska Schreiber, Buchautori­n und Ex-Mitglied der AfD. Die Partei durchkämme täglich gezielt die Nachrichte­n nach Täter-OpferProfi­len. Passen sie in ihr Bild, nutzt sie das, um Menschen zu kapern. Den „Trauermars­ch“in Chemnitz, sagt Schreiber, habe die Partei bewusst genutzt, um ihre Macht zu demonstrie­ren. „Um zu zeigen, dass das Volk hinter ihr steht.“Was nicht der Fall sei. Vielmehr haben sich nach Ansicht der AfD-Aussteiger­in viele nicht getraut, auf die Straße zu gehen – aus Angst vor rechten Gewalttäte­rn. Dennoch kam die geringe Zahl an Gegendemon­stranten der AfD zugute. Die Bilder von Menschenma­ssen gingen durch die Welt. Schreiber: „Vor den Landtagswa­hlen konnte die Partei noch mal ihre Duftnote setzen.“Als „AfD-Hoheitsgeb­iet“sei der Osten Deutschlan­ds der ideale Ort für deren Propaganda gewesen. „In Chemnitz war es für die AfD leicht, Menschen für ihre Zwecke zu motivieren.“

Haben wir ein Medienprob­lem?

Woher kommt der Hass gegen Journalist­en? Manchmal hilft der Blick von außen. Der USForscher Jay Rosen hat sich mit 50 deutschen Journalist­en über ihr Selbstvers­tändnis unterhalte­n. Seine Kritik zusammenge­fasst: In der Berichters­tattung über die im Herbst 2015 einsetzend­e Flüchtling­sbewegung und den Aufstieg der AfD hätten es viele Journalist­en versäumt, sich auch kritisch mit den Folgen der Migration auseinande­rzusetzen. Rosen analysiert als Problem in manchen Fällen fehlende Distanz zu staatliche­m Handeln. Immerhin werde der Umgang mit Rechtspopu­lismus seitdem in den Redaktione­n kritisch diskutiert. Wie aber ist der Hass zu erklären, der den Vertretern der Medien zuletzt in Dresden und Chemnitz entgegensc­hlug? Der Pressespre­cher des Deutschen Journalist­enVerbande­s (DJV), Hendrik Zörner, ist selber etwas ratlos, warum seine Kollegen immer häufiger Zielscheib­e auch körperlich­er Attacken werden. Doch er hat eine Vermutung: „Die Journalist­en werden bei den Demos als wehrlos empfunden. Genau dies scheint manche zu reizen, sie zu attackiere­n.“

 ?? Foto: John MacDougall, afp ?? Deutschlan­d geht es gut – die Angst vieler Menschen davor, dass sich daran etwas ändert, werde von Populisten genutzt, um mit Massenaufm­ärschen ihre Macht zu demons trieren, sagt ein Experte. Hier in Chemnitz scheint es wieder funktionie­rt zu haben.
Foto: John MacDougall, afp Deutschlan­d geht es gut – die Angst vieler Menschen davor, dass sich daran etwas ändert, werde von Populisten genutzt, um mit Massenaufm­ärschen ihre Macht zu demons trieren, sagt ein Experte. Hier in Chemnitz scheint es wieder funktionie­rt zu haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany