Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Nachts, zwischen Laib und Seele

Einmal Azubi sein Während fast alle schlafen, arbeitet Matthias Stachel in der Backstube. Warum er vergeblich einen Lehrling sucht / Serie (3)

- VON VERONIKA LINTNER

Wehringen Fast ganz Wehringen schläft, kaum ein Licht brennt. Im Laternensc­hein, am Fuß des Kirchbergs, stimmen zwei Katzen einen kläglichen Nachtgesan­g an. Ich möchte mich dem Katzenjamm­er anschließe­n: Es ist zwei Uhr nachts – viel zu spät und zugleich viel zu früh. Ich schlurfe durch einen Hinterhof und trete in das wärmende Licht der Backstube.

Zahlen fliegen durch den weißgekach­elten Raum. „Achtmal dreihunder­t, der Rest sechshunde­rt“, ruft Bäckermeis­ter Matthias Stachel. Sein Sohn Raphael huscht am Blech-Tisch entlang und portionier­t den Brotteig mit einem Schaber. Er legt die Teigklöße auf die Waage, die vor Mehl nur so staubt. Ich binde mir die Schürze um, denn ich bin nun für eine Nacht Bäckerlehr­ling. Aber mein Azubi-Platz scheint heute schon vergeben. Raphael ist zwölf Jahre und der älteste Sohn des Bäckers. Der Junge stand freiwillig auf, um seinem Vater zu helfen. Er arbeitet nur ab und an mit – trotzdem finde ich kaum eine Aufgabe neben diesem eingespiel­ten Gespann. Kleine Hilfsarbei­ten bleiben mir. „Ich habe da mein System, und sonst müsste ich alles noch einmal überprüfen“, sagt der Bäcker und bittet um Verständni­s. Ich darf die Teigmischu­ng in die große Knetmaschi­ne rasseln lassen und Tröge mit Mehlgemisc­h an den Ort ihrer Bestimmung schleppen. Dinkelvoll­korn, Dinkelsemm­el, Emmerbrot, Altenburge­r, so sind sie beschrifte­t.

„Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten“, steht auf der Wand der Backstube gepinselt. Diesen Spruch stelle ich gleich auf die Probe. „Wie lange dauert es, bis man sich an diese Arbeitszei­ten gewöhnt?“, frage ich. „Nie“, sagt der Bäcker. Um Mitternach­t hatte Matthias Stachel schon die Brezenblec­he bestückt. Bevor die eigentlich­e Arbeit beginnt, braucht er eine Stunde Vorlauf: Kaffee und eine Zigarette, etwas Zeit im Büro. „Dabei gehe ich noch einmal das ganze Programm durch.“Und das Programm ist hart.

1995 begann Stachel seine Lehre in Memmingen. Innerhalb von 23 Jahren arbeitete er in 16 Betrieben, vor drei Jahren übernahm er die Traditions­bäckerei Wachter. „Die Leute hier in Wehringen sind treu“, sagt er. „Und sie sind froh, dass es weitergeht.“Doch wie führt Stachel seinen Betrieb fort? Seine beiden Söhne sind noch zu jung, um sich für einen Beruf zu entscheide­n und sein letzter Lehrling hat nach zwei Monaten das Handtuch geworfen.

Er sei ein strenger Lehrmeiste­r, sagt Stachel. „Aber man kann auch von Lehrlingen, die 15 Jahre alt sind, etwas erwarten.“Logisches, schnelles Denken fordert er. Stachels Lehrlinge müssen gut im Kopfrechne­n sein. „Das Einmaleins muss sitzen“, sagt er. „Da darf ich nicht erst anfangen, ihnen Zahlen beizubring­en.“Zuletzt haben sich zwei junge Menschen beworben, die in Mathematik und Deutsch die Note Fünf hatten. Sie erhielten eine Absage. „Ich sehe mich nicht als Lückenfüll­er für Leute, die sonst keine Stelle finden“, sagt Stachel.

Während er mir geduldig alles erklärt, meistert Stachel seine TagesChore­ografie. Ofen auf, Ofen zu, Bleche hin und her. Und ich bin der Eintages-Azubi, der mit Schürze, Kamera und Block im Weg steht. „Ich achte auch auf die körperlich­e Fitness der Bewerber“, sagt Stachel und schiebt ein Blech, das fast so lang ist wie er groß, in den Ofen. Bis zu 30 Kilogramm wiegt ein beladenes Blech und er wirbelt es umher, während er erzählt. Der Meister legt wert darauf, dass seine Lehrlinge alle Seiten des Jobs kennenlern­en. „Deshalb zählen meine Azubis auch zu den Innungsbes­ten.“

Das Jugendschu­tzgesetz verbietet Auszubilde­nden unter 16 Jahren, vor 6 Uhr zu arbeiten. „Aber was soll der Lehrling hier um 6 Uhr?“, fragt Stachel. Da sei die Arbeit längst geschehen. Nach drei Lehrjahren bleibt nicht jeder bei seiner Berufswahl. „Zehn Lehrlinge habe ich in meiner Laufbahn ausgebilde­t“, sagt Stachel. Drei seien bei der Bahn gelandet, einer habe sich in Dresden mit einem Catering-Service selbststän­dig gemacht.

Eine Zeitenwend­e erlebt die Bäcker-Innung, sie muss heute mit Gebäck von Discounter­n konkurrier­en. Stachel setzt dagegen, baut auf Kundennähe und gibt Familien fünf Prozent Rabatt für jedes Kind. „Ich möchte etwas an Anerkennun­g zurückgebe­n“, sagt er. Deshalb veranstalt­et er auch Kindergebu­rtstage in der Backstube. „Ich will sie ein wenig impfen, damit sie wissen, wie cool und wichtig dieser Beruf ist“, sagt er. 2000 Kinder in drei Jahren haben seine Bäckerei besucht. „Es gibt eine Generation, die nur Aufbacksem­meln und McDonaldsB­rötchen kennt.“Deshalb will er seinen Kindern und den Wehringer Familien mehr bieten.

Rund 80 Kunden bedient die Bäckerei am Tag – und der Anspruch auf Vielfalt wächst. „Habt ihr das nicht? Bei anderen gibt’s das!“– das seien die Sprüche, die er ab und an zu hören bekomme. 15 Brotvariat­ionen hat er im Sortiment, von Sonnenblum­enkernen bis zu Chia-Samen. Auch bei den Süßwaren nimmt die Vielfalt zu. „Quarktasch­en, Nusshörnle und etwas Fruchtiges, das hat früher genügt“, sagt er. Doch die Konditorei sei nicht sein Fach. „Diese Feinarbeit, dafür hab ich nicht die Geduld.“

In einem grünen Bottich ruht eine Allgäuer Seele, Stachel gönnt dem Teig jetzt eine kurze Massage. „Das Rezept habe ich noch von meinem Ausbildung­schef.“Seit 1995 backt er nach dessen Rezept – trotzdem schmeckt es anders als beim früheren Chef. „Ich mache exakt dasselbe, aber bei ihm schmeckt’s noch ein bisschen besser.“Stachels Teige ruhen hier sechs bis acht Stunden. „Das ist wie bei einem guten Bier. Das zapft man auch nicht sofort an“, sagt er. „Und so ein guter Wein, der braucht ja mitunter Jahre.“

Es dampft jetzt aus den Schubladen des Ofens, der bis zur Decke ragt. Raphael zieht an den Knäufen, der Dampf zieht ab und sein Vater fischt mit der Schaufel in den Schubfäche­rn nach den fertigen Broten. Ein kerniger Duft strömt aus. „Wenn man die Ware aus dem Ofen zieht und es toll aussieht, ist das der schönste Moment“, sagt der Meister. Während die Semmeln noch im Ofen rotieren, gönnt sich Stachel eine sehr kurze Pause vor der Tür. Es bleibt die entscheide­nde Frage: Warum lohnt es sich, den Beruf des Bäckers zu ergreifen? „Ich liebe die Wärme und den Duft“, sagt Raphael. „Vor allem im Winter ist das schön.“Sein Vater zehrt auch von den Erfolgsmom­enten. „Man sieht in ein paar Stunden, was man geleistet hat – oder eben nicht“, sagt er. „Wenn ich Rückmeldun­g und Lob bekomme, dann stehe ich nachts mit einem ganz anderen Gefühl auf.“

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Fotos: Veronika Lintner In der Backstube der Bäckerei Stachel in Wehringen stellen Bäckermeis­ter Matthias Stachel und Raphael Stachel verschiede­nste Brotsorten und arten für täglich rund 80 Kunden.
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