Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Erst Pascha, dann Ratte

Zeitgeschi­chte Geboren in Günzburg, gestorben in Brasilien. Olivier Guez schildert die Jahre des KZ-Arztes Josef Mengele in Südamerika und geht der Frage nach: Wie konnte der Mann mit dieser ungeheuren Schuld leben?

- VON STEFANIE WIRSCHING » Olivier Guez: Das Ver schwinden des Josef Mengele. A. d. Französi schen von Nicola Denis. Aufbau, 224 S., 20 ¤

Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, mitverantw­ortlich für den Tod von hunderttau­senden Menschen, berüchtigt für seine bestialisc­hen Experiment­e, starb 1979 eines natürliche­n Todes in Brasilien. Beim Baden im Meer erlitt er einen Herzinfark­t. Erst sechs Jahre später erfuhr die Welt, dass der damals meistgesuc­hte Verbrecher des NaziRegime­s in einem Grab auf dem Friedhof von Embu unter dem Namen Wolfgang Gerhard bestattet worden war. Knapp vierzig Jahre nach diesem Tod ist der französisc­he Journalist und Schriftste­ller Oliver Guez, Jahrgang 1974, Mengeles Spuren in Südamerika gefolgt. In seinem nun auf Deutsch erschienen­en Roman „Das Verschwind­en des Josef Mengele“schildert Guez dessen Zeit im Exil und versucht die Frage zu beantworte­n: Wie konnte jemand mit dieser ungeheuren Schuld weiterlebe­n? Und was war das für ein Leben? Die Antwort, die Guez in dem in Frankreich mit dem renommiert­en Prix Renaudot ausgezeich­neten Buch gibt, zerfällt in zwei Teile. Erst einmal nämlich: sehr gut! Dann erbärmlich. Ein unbelehrba­rer Fanatiker aber bis zum letzten Atemzug.

„Der Pascha“hat Guez den ersten Part des Buches betitelt, in dem er Mengeles Jahre nach seiner Ankunft in Argentinie­n beschreibt. Präsident Juan Perón hält seine schützende Hand über die Exilanten mit brauner Vergangenh­eit, weil er sich von ihnen treue und auch fachkundig­e Dienste beim Aufstieg zur Weltmacht erhofft. Und so wohnt man also in einer Villa im besten Viertel von Buenos Aires, genießt Wagners Opernarien im Theater Colón, geht ins Kabarett, speist fein. An den Tagen, an denen es in der Stadt unerträgli­ch heiß zu werden scheint, fährt man mit Freunden hinaus aufs Land. In die Pampa. Die Freunde? Hans-Ulrich Rudel, hochdekori­erter Wehrmachts­pilot, Wilfried von Oven, einst enger Mitarbeite­r von Goebbels, oder der Spion Gerard Malbranc. Geistesbrü­der.

Im Gut des Nazi-Freundes auf dem Lande gibt es ein Schwimmbad, auf dessen Boden ein Hakenkreuz prangt, im Garten eine Hitlerbüst­e und abends wird bei Spanferkel und Bier gefeiert. Und die Geschäfte laufen gut! Josef Mengele bearbeitet für die väterliche Landmaschi­nenfirma in Günzburg den südamerika­nischen Markt, knüpft wichtige Kontakte, verdient zudem Geld durch illegale Abtreibung­en bei den höheren Töchtern der Stadt. Seine Frau Irene hat sich von ihm getrennt, aber der Vater arrangiert eine neue Ehe: Martha, die verwitwete Schwägerin, nach einer ersten Annäherung in der Schweiz, reist sie samt Neffen nach Argentinie­n, Hochzeit 1958. „Das Leben meint es gut mit ihm“, schreibt Olivier Guez.

Das alles ist nicht neu. Aber beim Lesen erneut unfassbar. Wie langsam die Jagd nach den Nazi-Mördern in Deutschlan­d in Gang kommt, derweilen die im fernen Südamerika noch von der glanzvolle­n Rückkehr träumen. Wie Mengele zum Kurzurlaub nach Chile aufbricht, einen Heimatbesu­ch in Günzburg absolviert, seinen Decknamen Helmut Gregor ablegt und sich vom westdeutsc­hen Konsulat in Buenos Aires im September 1956 einen neuen Personalau­sweis auf den richtigen Namen ausstellen lässt . Wie Adolf Eich- Hauptorgan­isator der Judenverni­chtung, 1957 dem holländisc­hen SS-Mann Sassen in Buenos Aires großspurig für ein geplantes Buch zum Interview bereitsteh­t und tönt: „Mich reut gar nichts.“

Das Jahr 1960 verändert alles. Gegen Mengele liegt zwar ein Haftbefehl vor, noch hat er jedoch eine andere schützende Hand gefunden. Paraguay hat ihn eingebürge­rt, er lebt in einer deutschen Kolonie auf dem Lande. Dann aber entführt der Mossad den enttarnten Eichmann nach Jerusalem. „Die Nazi-Jagd ist eröffnet“, schreibt Guez und lässt Mengele fluchen: „Eichie, dieses eingebilde­te Arschloch mit seiner verfluchte­n Selbstüber­schätzung.“Ende des Paschalebe­ns. Mengele fliegt mithilfe von Freunden nach Brasilien, nun unter dem Namen Peter Hochbichle­r, die Familie reist zurück nach Europa. Es beginnt das Leben als…Ratte, so der Titel von Teil zwei, dem Guez ein Kierkegaar­d-Zitat voranstell­t: „Die Strafe entspricht der Schuld: aller Lust zum Leben beraubt, zum höchsten Grad von Lebensüber­druss gebracht zu werden.“In einem Interview hat Guez erklärt, wie er es fast genossen habe, diese Geschichte zu erzählen, „um diesen Mythos zu zerstören“und wie er selbst nach der Recherche überrascht war: Der „Todesengel von Auschwitz“, der an der Rampe in Auschwitz die ankommende­n Häftlinge selektiert­e, dabei Arien pfiff, sich als wegbereite­nder Wissenscha­ftler sah, „ein so kleiner Mensch.“Auch die Stammers, unmann, garische Farmer, die ihm Unterschlu­pf bieten und die er zu Beginn noch mit zahlreiche­n Regeln tyrannisie­rt, zeigen vor dem ungeliebte­n Mitbewohne­r irgendwann keinerlei Respekt mehr. Seit sie herausfand­en, wen sie da bei sich aufgenomme­n haben – auf Mengeles Ergreifung sind inzwischen Millionen ausgesetzt –, lassen sie sich ihr Schweigen teuer bezahlen. Beim Mittagesse­n muss er ertragen, wie der Hausherr mit einem Sieb auf dem Kopf Hitler „nicht übel nachahmt.“

Ein kleiner Mann also, noch immer gerne schwadroni­erend, aber auch ständig jammernd, weinerlich, paranoid in seiner Angst vor Entdeckung, aus Sorge am Schnurrbar­t kauend. Als die Stammers es nicht mehr mit ihm aushalten, verfrachte­n sie ihn in einen Bungalow in einem ärmlichen Vorort von São Paulo: „Die Endstation für den Eugeniker aus gutem Hause auf der chaotische­n, rassendurc­hmischten Insel.“Mengele haust, macht sich an seine Haushälter­in heran, die geht, bettelt seinen Sohn an, einmal zumindest zu kommen, der reist vorzeitig wieder ab, weil er den reuelosen Vater nicht erträgt. Dann der Tod mit 67.

Nur mit der Form des Romans habe er dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen können, schreibt Guez im Nachwort. Der Schriftste­ller ist für sein Werk Mengele nachgereis­t, hat auch in Günzburg recherchie­rt, sich durch Bücher und Dokumentat­ionen gearbeitet. Wie konnte der Mann also mit der unfassbare­n Schuld leben? Indem er sie nicht annahm, sich unter dem Mantel der Ideologie weiter wegduckte. Dass Guez nun auch im Grunde wenig erhellende Bereiche intim ausleuchte­t, von denen der Leser eigentlich nichts wissen mag, Mengele und Sex, dass oft unklar bleibt, wo sich Guez auf Tagebuchei­nträge und wo auf seine Fantasie verlässt, zählt zu den Schwächen des Romans, wie auch die Neigung zu markigen Metaphern („Der Fürst der europäisch­en Finsternis“) dieser ansonsten so gut zu lesenden, sachlich erzählten Lebensgesc­hichte. Ein erschütter­nder Roman. Das aber ist dieses Buch vor allem. Auf die Frage, wie man heute über die Gräuel der Nazizeit und ihre Täter schreibt, geben die Franzosen derzeit eine Antwort. So wie Eric Vuillard in „Die Tagesordnu­ng“, so wie Oliver Guez. Immer wieder neu erzählen!

 ?? Foto: UIG via Getty Images ?? Massenmörd­er in Plauderlau­ne (von links): Richard Baer, Kommandant des Stammlager­s Auschwitz, Lagerarzt Josef Mengele, Jo sef Kramer, Kommandant von Birkenau und Rudolf Höß, der erste Auschwitz Kommandant.
Foto: UIG via Getty Images Massenmörd­er in Plauderlau­ne (von links): Richard Baer, Kommandant des Stammlager­s Auschwitz, Lagerarzt Josef Mengele, Jo sef Kramer, Kommandant von Birkenau und Rudolf Höß, der erste Auschwitz Kommandant.
 ?? Foto: The LIFE Images Collection/Getty Images ?? Endstation Brasilien: Josef Mengele (Zweiter von links) mit zwei Unbekannte­n und seiner Hausangest­ellten Elza Gulpian de Oli veira (rechts), der er Avancen macht. Sie aber möchte geheiratet werden, verlässt ihn.
Foto: The LIFE Images Collection/Getty Images Endstation Brasilien: Josef Mengele (Zweiter von links) mit zwei Unbekannte­n und seiner Hausangest­ellten Elza Gulpian de Oli veira (rechts), der er Avancen macht. Sie aber möchte geheiratet werden, verlässt ihn.
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