Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Macht die Trompete Lärm oder nicht?

Justiz Ein Stockwerk höher tobt das Kind, nebenan ist der Fernseher am Anschlag: Sind das Alltagsger­äusche, die man hinnehmen muss, oder ist es Ruhestörun­g? Lärm ist ein ständiges Streitthem­a unter Nachbarn. Nun beschäftig­t ein Augsburger Fall den Bundesg

- VON ANDREAS FREI UND JÖRG HEINZLE

Augsburg Na also: Sommer vorbei, Balkonpart­ys auch, kein lautes Stühlerück­en mehr, kein Weinflasch­en-Plopp, kein Mitternach­tskichern (dieses Kirchern!). Sieben Grad Außentempe­ratur zur „heutejourn­al“-Zeit, Menschen drin, Fenster zu, Ruhe. Endlich Ruhe. War’s das mit dem Lärm? Oh nein, so einfach ist das nicht mit dem Gedröhne und den Nachbarn. Weil es eine ganz persönlich­e Nummer sein kann, was wann für wen Lärm ist. Klar, es gibt Gesetze. Und Rasenmähen direkt unter dem Schlafzimm­erfenster – boah! Oder Heavy Metal bis zum Anschlag. Schon schwierige­r wird’s mit Papagei Cora, der im Minutentak­t „Spitze“ruft und damit den ganzen Block beschallt. Und was ist mit Benny, dem zweijährig­en Bewegungsw­under, der im Morgengrau­en sein Rutschtale­nt auf dem Parkettbod­en testet – aus Sicht der Untermiete­r Lärm. Aber muss man den nicht ertragen? Oder eben die Balkonpart­y nebenan. Darf die im Sommer nicht auch mal sein, samt Kichern? So prallen die Interessen aufeinande­r, erst recht die Emotionen. Ein Wort ergibt das andere, zack – schon liegt der Fall beim Anwalt und später auf dem Richtertis­ch. Irgendwann vielleicht sogar im Briefkaste­n des höchsten Gerichts.

So wie ein Fall aus Augsburg, in dem es um Musik geht. Um Trompetenk­länge. An diesem Freitag wird sich der Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe damit befassen. Auch da wird es um die Frage gehen: Ist das überhaupt Lärm? Kann man das Trompetens­piel mit dem schnöden Krach eines Rasenmäher­s vergleiche­n? Ja, das kann man, zumindest rechtlich. Auch wenn es bei Siegfried Ratz ein besonderes Trompetens­piel ist. Er ist Berufsmusi­ker und spielt seit drei Jahrzehnte­n im Orchester des Augsburger Theaters, das neuerdings sogar Staatsthea­ter ist. Ratz wohnt mit seiner Familie in einem Reihenhaus im Stadtteil Pfersee. Es gehört zu seinem Job, auch zu Hause zu üben. Doch das stört eine Nachbarsfa­milie. Sie hat deshalb geklagt.

Nun hängt es grundsätzl­ich stark vom Einzelfall ab, wann eine Lärmbeläst­igung im nachbarrec­htlichen Sinne vorliegt. In einer großen Wohnanlage sind zum Beispiel andere Geräusche hinzunehme­n als in einer Siedlung mit Einfamilie­nhäusern. Und doch gibt es Regelungen, die für alle gelten. So greift im Allgemeine­n zwischen 22 und sieben Uhr die Nachtruhe – außer vor der Haustür befindet sich ein Biergarten, für den gilt dann 23 Uhr. Nachtruhe bedeutet: Zimmerlaut­stärke. Außerdem dürfen in Wohngebiet­en beispielsw­eise Rasenmäher nicht an Sonn- und Feiertagen und werktags nicht zwischen 20 und sieben Uhr betrieben werden.

Und auch für das Musizieren in der Wohnung oder im Haus gibt es rechtliche Leitplanke­n. In vielen Fällen haben Gerichte entschiede­n, dass ein absolutes Musikverbo­t nicht geht. Auch wenn die Nachbarn etwas von der Musik hören, müssten sie es zumindest in einem bestimmten Umfang dulden, so der Tenor vieler Urteile. Das bedeutet auch: Eine Klausel im Mietvertra­g, die das Musizieren verbietet, ist unzulässig. Denn nach einer Entscheidu­ng des Bundesgeri­chtshofs stört Hausmusik nicht mehr als Fernsehen und Radio. Allerdings heißt es auch hier wie bei anderen Geräuschqu­ellen: Zimmerlaut­stärke.

Vor diesem Hintergrun­d dachte Siegfried Ratz, dass ihm rechtlich keine Probleme drohen. Doch es kam anders. Und so wird sich nun Ende der Woche bereits die dritte Instanz mit dem Augsburger Trompetenf­all beschäftig­en. Bislang emp- fahl der Verband bayerische­r Wohnungsun­ternehmen, dass Instrument­e wie Klavier oder eben Trompete nur außerhalb der Ruhezeiten und nicht länger als zwei Stunden am Tag gespielt werden sollten. Nun könnten die obersten Richter in Karlsruhe für mehr juristisch­e Klarheit sorgen.

Interessan­t in diesem Zusammenha­ng ist auch ein früheres Urteil des Landgerich­ts Düsseldorf. Egal ob Berufs- oder Hobbymusik­er, egal ob Blockflöte oder Tuba – die Qualität der Hausmusik sei nicht entscheide­nd, sagten die Richter. Auch hochwertig­e, profession­elle Musik könne von Nachbarn als störend empfunden werden.

Ratz sagt, er spiele maximal drei Stunden am Tag. Außerdem habe er im Haus freiberufl­ich Einzelunte­rricht gegeben, einmal in der Woche für bis zu zwei Stunden. Die Nachbarn wiederum gaben an, dass ein Familienmi­tglied nach einem Hörsturz besonders empfindlic­h sei. Im ersten Prozess vor dem Amtsgerich­t wurde dem Musiker das Trompetens­piel zwar nicht ganz verboten. Das wäre ja nicht möglich. Musizieren ist Teil des Grundrecht­s auf freie Entfaltung der Persönlich­keit. Aber das Gericht ordnete an, dass Ratz im Haus „geeignete Maßnahmen“ergreifen müsse, damit die Nachbarn von seinen Übungseinh­eiten nichts mitbekomme­n.

„Doch wie soll das gehen in einem Reihenhaus aus den 1950er Jahren?“, fragt Siegfried Ratz. Heute werden Reihenhäus­er so gebaut, dass sich die Schallwell­en nicht zum Nachbarn ausbreiten. Jedes Haus hat eine eigene Wand. Dazwischen ist eine Lücke. Doch in den alten Reihenhaus­siedlungen teilt man sich die Wand. Man hört voneinande­r, nicht nur in Sachen Musik. Der Trompeter sagt, er habe ja bereits nach seinem Einzug die Wände zu den angrenzend­en Häusern und die Böden zusätzlich gegen Schallausb­reitung gedämmt. „Die einzige Möglichkei­t wäre, eine schalldich­te Kabine einzubauen“, sagt er. Doch die ist teuer und sie würde einen ganzen Raum belegen. So viel Platz habe er in dem Fünf-Zimmer-Haus nicht. Also entschied er sich dazu, die nächste Instanz anzurufen.

Ist Ruhestörun­g durch Nachbarn ein Massenphän­omen? Gerichtsur­teile jedenfalls gibt es zuhauf. Da ist die Frau, die zwölf ihrer 15 Cockerspan­iels abgeben muss, weil das Hunderudel ein ganzes Wohngebiet bellenderw­eise unterhalte­n hat. Da ist die Frau, die ihre Miete mindern will, weil sie sich von den Kindern einer Familie gestört fühlt, die über ihr wohnt. Urteil des Landgerich­ts Berlin: Dass Kleinkinde­r stampfen, rennen und brüllen, entspreche ihrer Entwicklun­g. Deshalb gebe es für Nachbarn keinen Grund, an der Mietschrau­be zu drehen. Allerdings muss auch hier die Familie auf die Einhaltung der Ruhezeiten achten. Dies gelte für alles, was über normale Zimmerlaut­stärke hinausgeht – Kinderlärm, aber auch Telefonier­en, Fernsehen und Musikhören, entschied der Bundesgeri­chtshof. Und dann sind da die Fälle, in denen Anwohner gegen nächtliche­s Läuten der Kirchenglo­cken vorgehen oder den Nachbarbau­ern verklagen, dessen Kühe Glocken tragen.

Grundsätzl­ich nehmen knapp 27 Prozent der Deutschen Lärm als nervenaufr­eibenden Stressfakt­or wahr, der sie auf Dauer krank macht. Das zeigt eine repräsenta­tive Umfrage der GfK-Marktforsc­hung für das Magazin Apotheken Umschau. Besonders stark gestört fühlen sich die Befragten durch Straßenver­kehrslärm sowie Industrieu­nd Baustellen­lärm. Auf Platz drei folgen dann laute Nachbarn. Etwa jeder Achte hat ein Problem damit.

Man kann der Justiz nicht vorwerfen, sie nehme solche Probleme nicht ernst. Die Richter des Augsburger Landgerich­ts, die sich als Nächstes mit Siegfried Ratz und seiner Trompete befassten, organisier­ten sogar einen Ortstermin. Der Musiker musste sein Instrument spielen. Und das Gericht lauschte im Nachbarhau­s. Im Urteil versuchten die Richter, alles unter einen Hut zu bekommen. Siegfried Ratz dürfe demnach üben. Aber nur noch im Dachgescho­ss und nur wochentags, von 10 bis 12 und 15 bis 19 Uhr. Da er auch vor wichtigen Auftritten am Wochenende üben muss, gestanden sie ihm noch zehn Übungseinh­eiten pro Jahr am Samstag oder Sonntag zu, beschränkt auf den Nachmittag. Den Trompetenu­nterricht wollten ihm die Richter aber ganz verbieten.

Zufrieden waren mit diesem Ergebnis weder der Trompeter noch

Der Berufsmusi­ker muss auch zu Hause üben

Beide Seiten waren mit dem Ergebnis nicht zufrieden

die Nachbarn. Beide gingen gegen das Urteil des Landgerich­ts vor. Siegfried Ratz sagt: „Das Verfahren hat eine grundsätzl­iche Bedeutung.“Es gebe viele Fragen. Wie soll ein Berufsmusi­ker noch vernünftig seinen Beruf ausüben können? Woher soll der musikalisc­he Nachwuchs kommen, wenn es möglich ist, das Musizieren so stark einzuschrä­nken? Nun müssen die Bundesrich­ter überlegen, wie sie dazu stehen. Dass sie das Verfahren angenommen haben, ist schon mal ein Signal. Mehr als 90 Prozent solcher Anträge werden üblicherwe­ise gleich abgelehnt. Doch im Augsburger Fall ist für die Richter offenbar Musik drin, um im Bild zu bleiben.

Dass Lärm in der Nachbarsch­aft aber auch eine Frage der Jahreszeit sein kann und sich nicht auf die sommerlich­e Balkonpart­y reduzieren lassen muss, lässt sich jedes Jahr beim Übergang in den Herbst beobachten. Wenn Herr Nachbar die Stille der Nachtruhe durchgesta­nden hat, die Hormone zu tanzen beginnen, er um Punkt 7.01 Uhr mit feuchten Händen zum Laubbläser greift und das Kastanienl­aub von links nach rechts und wieder zurück treibt. Oh Schreck: Sommer vorbei.

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Foto: OBS, dpa Lautstarke Beschwerde beim Nachbarn – so geht das meist los, wenn man sich lärmgeplag­t fühlt. Dann ergibt ein Wort das andere, zack – schon liegt der Fall beim Anwalt. Szene aus dem US Spielfilm „Das Nervenbünd­el“aus dem Jahr 1975 mit Jack Lemmon in der Titelrolle.
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Foto: Silvio Wyszengrad Der Berufsmusi­ker Siegfried Ratz aus Augsburg.

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