Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Doppelmord mit Freispruch
Staatstheater Augsburg „Die Orestie“von Aischylos zieht in den Martinipark ein
Er war nicht der allererste Dichter der antiken griechischen Tragödie, aber er war vor knapp 2500 Jahren der erste aus der der griechischen Tragödie – und auch der erste, der den großen blutrünstigen, rachevollen Atriden-Komplex „Orestie“um Agamemnon-Klytämnestra-Elektra-Orest beschrieb: Aischylos. Er dramatisierte ihn in einer Trilogie noch vor Sophokles und Euripides und wurde auch dafür wieder bei den Dionysien-Festspielen von Athen preisgekrönt (458 vor Christus).
Nun eröffnet dieser gewaltige und gewaltvolle „Orestie“-Zyklus, der so oft übersetzt und bearbeitet worden ist, im Martinipark die erste Spielzeit des Staatstheaters Augsburg. Mit den Worten „back to the roots“begründet Regisseur Wojtek Klemm die Entscheidung für Aischylos – und gegen die Bearbeitungen speziell des 20. Jahrhunderts. Er inszeniert auf der Grundlage der Übersetzung von Walter Jens.
Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie; seine Frau Klytämnestra ermordet dafür ihren Mann; ihr Sohn Orest bringt wiederum Klytämnestra und deren Liebhaber Ägisth um, wofür er von den Erinnyen gejagt wird. Das ist in Kurzfassung der Inhalt der ersten beiden Teile des „Orestie“-Stoffes von Aischylos.
Im dritten dann steht Orest für seinen Mord an Klytämnestra (und Ägisth) vor einem Geschworenengericht, was historisch und theaterwissenschaftlich ebenso einen epochalen Schritt markiert wie die Einführung des Dialogs auf der Bühne durch Aischylos: Das Werk legt den Wandel von Blutrache zur bürgerlichen Rechtssprechung dar. Ein großer Moment der Menschheitsgeschichte.
Regisseur Wojtek Klemm, 1972 in Warschau geboren, inszeniert die Trilogie zusammen mit seiner Frau Efrat Stempler (*1977 in Tel Aviv), eine langjährig erprobte Zusammenarbeit. Er ist vornehmlich für die Sprache zuständig, sie als ehe- malige Tänzerin vornehmlich für Choreografie, Körperarbeit und physischen Einsatz der (zehn) Schauspieler – wodurch höhere emotionale Beteiligung freigesetzt wird. In seiner Heimat Polen, sagt Klemm, sei diese Arbeitsteilung übliches Regie-Prinzip, in Deutschland stoße es noch immer auf Verwunderung.
Der ehemalige Frank-CastorfAssistent in Berlin, der später Etliches von Bert Brecht und Heiner Müller inszenierte: „In Deutschland bin ich der polnische Regisseur, in Polen der deutsche Regisseur.“Und aus dem Spannungsfeld von deutsch- und polnischsprachiger Theaterarbeit schöpfe er seine Kraft. Lieber übrigens spreche er französisch von „Mise en scène“anstelle von „Inszenierung“. Schließlich kämen bei seinen Bühnenarbeiten noch weitere Produzenten hinzu: ein Komponist, in Augsburg heißt er Albrecht Ziepert, und die oder der Ausstatter(in), in Augsburg heißt sie Katrin Kersten.
Für Wojtek Klemm gibt es noch einen weiteren Anlass, speziell auf die „Orestie“von Aischylos zurückzugreifen: „Ich glaube, es ist heute wichtig, ein Stück zu erzählen, in dem die Entstehung von Recht und Gerechtigkeit erzählt wird.“Und Klemm zählt Länder auf, in denen die Rechtsprechung antidemokratisch bedroht ist, darunter Polen, darunter Ungarn. Gleichzeitig freilich legt er dar, dass die Rechtsprechung über den Fall Orest bei Aischylos (noch) gestellt und gebeugt wird durch die Beteiligten. Das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“gelte zwar bereits, doch werde es durch einen Trick der Göttin Athene durchgesetzt. Für seine Fassung sei der Gerichtsprozess gekürzt und destilliert worden, um die Manipulation darzustellen.
Orest also wird freigesprochen – obwohl er seine Mutter mordete. Und die Rachegöttinnen werden zum Finale wohlwollend.