Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Das gibt es nur im Osten“
Das Interview Thomas Kretschmann
Sie sind selbst aus der DDR geflüchtet. Wie hat sich nun die „Rückkehr“angefühlt?
Thomas Kretschmann: Ich fühle mich aufgrund meiner Fluchterfahrung ein bisschen wie der Experte in diesem Team. Das gibt es ja nicht so oft, dass ein Schauspieler diesen Weg gewählt hat. Ich bilde mir ein, dass ich ganz genau weiß, wovon hier die Rede ist. Es war sehr emotional, weil Bully und sein Team ganze Arbeit geleistet haben. Alles hat sich so nach Osten angefühlt und so nach Osten gerochen, dass ich nach einem Drehtag ziemlich zerschlagen war.
Was hat Sie an der Rolle des StasiOberstleutnants Seidel gereizt?
Kretschmann: Wenn man mir das Drehbuch hingelegt und ich freie Wahl gehabt hätte, hätte ich mir auch den Seidel ausgesucht. Diese tolle Rolle beinhaltet viele der Mechanismen, die ich von der anderen Seite kenne. Als Schauspieler war es mir ein besonderes Vergnügen, diese Machtposition so zu porträtieren, wie die es damals ausgekostet haben. Die haben das richtig genossen. Man war ihnen hilflos ausgeliefert. Beim Verhör der beiden Soldaten wird klar, dass es egal ist, wie man es dreht. Man weiß nie, welche Antwort man geben soll. Der Seidel wird es immer so hindrehen, dass es die falsche Antwort war. Das war damals der Allgemeinzustand. Die Machtlosigkeit, diese Entleibung waren für mich Gründe zur Flucht.
Haben Sie ausschließlich schlechte Erinnerungen an die DDR?
Kretschmann: Natürlich gab es auch ganz viel Schönes. Ich hatte eine tolle Kindheit. Den Kindern gehörte das ganze Land. Es wurde ja auch von Kindern regiert. Es gab keinen Fortschritt, kaum Autos. Als Kind von sechs Jahren hatte ich ein Fahrrad und einen Schlüssel um den Hals und musste nach Hause kommen, wenn es dunkel wurde. Wo auf der Welt kann man sich das heute mit seinen Kindern leisten? Die Sportschule war dann etwas anderes. Man hat mich mit zehn Jahren gefragt, ob ich Weltmeister werden möchte. Und ich habe Ja gesagt. Dann war ich drin in der Maschine und habe zwanzig Kilometer am Tag Kacheln gezählt. Mit 17 habe ich mich da rausgeschält. Das war nicht einfach, man hatte schließlich einen „Leistungsauftrag“. Heute frage ich mich, warum man das alles so mitgemacht hat. Im Großen und Ganzen hat sich alles so angefühlt, wie der Film es vermittelt.
Hatte die Stasi Sie im Visier?
Kretschmann: Diesen Eindruck hatte ich total, ja. Ich habe mich jahrelang seelisch und moralisch auf eine Flucht vorbereitet. Da hat man natürlich versucht, das einzuzirkeln. Man konnte sich ja schlecht erkundigen. Ich habe mit niemandem über meine Flucht geredet. Übrigens habe ich auch meine Stasi-Akten nie eingesehen.
Warum?
Kretschmann: Ich habe mal im Kopf durchgespielt, was das mit einem machen würde. Ich hatte erreicht, was ich wollte, und bin unbeschadet da rausgekommen. Ich habe dem System den Finger gezeigt und mir erarbeitet, was ich vom Leben wollte. Alles hat gut geklappt. Wenn ich mir die Akten nun anschaue und spezifische Einzelheiten erfahre – was macht das mit mir? Ich rede jetzt nicht von meinem persönlichen Gefüge, aber stellen
Sie sich vor, Sie sind verheiratet und haben Kinder. Sie landen im Knast und hinterher stellt sich heraus, dass Ihre eigene Frau Sie dorthin gebracht hat. Wie lebt man dann weiter?
Auch Ihren Eltern haben Sie nichts von Ihren Plänen erzählt?
Kretschmann: Gerade meinen Eltern nicht. Meine Mutter war Schuldirektorin und in der Partei, verheiratet mit einem Professor für Marxismus/Leninismus.
Der Film macht die Angst der Familien spürbar, die den Fluchtplan geschmiedet haben. Hatten Sie Angst?
Kretschmann: Na klar. Schließlich wirft man sein gesamtes Leben in die Waagschale. Ich war sogar noch paranoider. Vielleicht habe ich es geschafft, weil ich immer 110-prozentig bin und versuche, alle Unabwägbarkeiten auszuschalten. Ich weiß auch, wie es ist, wenn man nach jedem Strohhalm greifen will. Man hatte ja auch kein Telefon. Man hat am Münzfernsprecher versucht, drüben anzurufen und über Codesprache ein Treffen am Wochenende in einem Berliner Hotel zu verabreden. Ich habe immer damit gerechnet, dass ich abgehört werde oder dass mich jemand beobachtet.