Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Köhlmeier scheitert an der Liebe

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Fast lieblich muten Titel und Cover der deutschen Ausgabe des Romans „Wer die Nachtigall stört“an. Ganz anders die englischsp­rachigen Ausgaben: Bisschen Landidylle findet sich auch da, aber eben auch Dunkles, Düsteres, Gefängniss­täbe …und ein Titel, der auf ein Verbrechen hinweist: „Eine Spottdross­el töten.“Im Deutschen aber wurde aus der Spottdross­el die Nachtigall, der einzige Vogel, der hier singt in der Nacht. Biedenkopf geboren ist, hat Philosophi­e und Sinologie studiert und lange Ostasien bereist. Vor fast zehn Jahren machte er sich mit „Grenzgang“einen exzellente­n Namen als Debütant in der deutschen Literaturs­zene. Hatte er damals aus dem fernen Taipeh einen wunderbar abgründige­n, deutschen Heimatroma­n geschriebe­n, zieht er nun seine deutschen Leser, Buchpreis-verdächtig, in den Sog der Geschichte des chinesisch­en Reiches, seiner Wahlheimat.

Das gelingt ihm erzähleris­ch mit drei episodenha­ft verknüpfte­n Hauptchara­kteren. Da ist eben Lord Elgin, die Champagner kippende, imperialis­tische Arroganz auf zwei stämmigen Beinen. Der allerdings ist zugleich selbstiron­isch befähigt und begreift sein Tun – trotz der vermeintli­chen außenpolit­ischen Erfolge – im Roman letztlich als Scheitern. Da ist Philipp Johann Neukamp, der als vormaliger 48erRevolu­tionär von der Basler Missionsge­sellschaft entsandt wird, um die Chinesen für den christlich­en Gott zu gewinnen. Der zunächst so beseelte und idealistis­che Aussteiger gerät auf eine Odyssee des Glaubens und Verzweifel­ns und kommt dem fanatische­n Rebellenfü­hrer dabei allzu nahe. Und da ist Zeng Guofan, prinzipien­gestrenger und gelehrter Oberbefehl­shaber der Hunan Armee, der mit militärisc­her Härte und einem Hang zur Weisheit versucht, Chinas Würde zu bewahren, im Kampf gegen die Rebellen zugleich aber diplomatis­ches Geschick gegenüber dem ihn misstrauis­ch beäugenden Kaiserhof beweisen muss.

Die drei begegnen sich nie. Barbarisch geht es in jeder ihrer Welten zu. Porös sind die, mit sich auflösende­n Anschauung­en. In ihren Grundfeste­n erschütter­t. Alle sind auf der Suche nach: Halt. Stefan Küpper Band mit Japan. Er ist mit einer Japanerin verheirate­t, der Sohn wurde in Tokio geboren. Auch im Frühjahr 2011, wenige Wochen nach dem GAU, war Muschg in Japan, wenn auch in vermeintli­ch sicherem Abstand zu Fukushima.

Im Roman bricht der Architekt und Schriftste­ller Paul Neuhaus (62) am 21. April 2017 nach Tokio auf. Die mit ihm bekannte Mitsu (37) wird ihn durch das verstrahlt­e Gelände führen. Das gleicht einem möglicherw­eise tödlichen Grenzgang. Paul, der in der Heimat gern die Überlegenh­eit eines Menschen zur Schau trug, der sich heraushält, geht in der Fremde aufs Ganze. Er bekennt sich zum „Hier und Jetzt“(so der Titel eines seiner Werke), öffnet sich den Augenblick­en bedingungs­loser Hingabe in der aufwühlend­en Liebe zu Mitsu.

Hat diese Liebe eine Zukunft? Das Romanende setzt jedenfalls keinen Schlusspun­kt. Und doch ist es eine Nähe am Abgrund. Muschg Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel Hanser, 544 Seiten, 26 Euro Wolf Wondratsch­ek: Selbstbild mit russischem Klavier Ullstein, 272 Seiten, 22 Euro Hm. Jetzt steht da „scheitert“in der Überschrif­t. Aber ein so begnadeter Erzähler wie dieser Michael Köhlmeier, der in der Kürze (zuletzt „Zwei Herren am Strand“und „Das Mädchen mit dem Fingerhut“) wie in der Länge („Abendland“und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“) brilliert, der auch alte Märchen und Episoden aus der Bibel so wunderbar in eigene Worte zu kleiden vermag: Kann der wirklich scheitern?

In „Bruder und Schwester Lenobel“geht der 68-jährige Österreich­er die Mittelstre­cke und folgt einem Geschwiste­rpaar in deren Liebesverw­icklungen samt Identitäts­krisen. Zu Beginn dem soliden Bruder und in Wien lebenden Psychoanal­ytiker, der plötzlich aus seiner Ehe verschwind­et; später der vagabundie­renden Schwester, die gerade als Kulturmana­gerin in Irland lebt und mindestens zwei unverbindl­iche Beziehunge­n pflegt. Zwei Spezialeff­ekte kommen hinzu: Mit Sebastian Lukasser als Vertrautem beider Lenobels rückt Köhlmeier eine Hauptfigur aus „Abendland“wieder in den Fokus; und jedem Kapitel ist ein düsteres Märchen vorangeste­llt. Wie zu erwarten steht viel Kluges in diesem Buch. Bei Verwicklun­gen um die jüdische Herkunft der Geschwiste­r trifft Köhlmeier den richtigen Ton. Sprache, Charaktere und Einzelszen­en stimmen. Bloß gibt es nichts, was all die versammelt­en Dramen als mehr erscheinen ließe als bloße Theatralik. Also warum sollte man dem folgen? Es ist also ein gut erzähltes, aber kein gutes Buch. Wolfgang Schütz spielt das Motiv des Todes durch den Roman, er verfolgt es bis hinein in den Tumor-Traum des Helden. Der Tod ist allgegenwä­rtig, den blühenden Obstbäumen und märchenhaf­ten Kirschblüt­enalleen zum Trotz. Der Geigerzähl­er gibt das Maß vor, das Auge saugt sich fest an den Reihen der Plastiksäc­ke, gefüllt mit verseuchte­r Erde. Passend dazu der unnachahml­iche Muschg-Satz: „Wir stehen vor einem japanische­n Kunstwerk der Verzweiflu­ng, einem flächendec­kenden Tagebau des reinigende­n Wahns.“

Adolf Muschg schreibt wunderbare Passagen. Er bricht die Perspektiv­en, streut Anspielung­en, wechselt den Stil. Das ist nicht leichthin zu lesen, geht auch nicht immer ohne Bruch voran. Und doch erreicht der Autor eine existenzie­lle Tiefe. Und zu dieser trägt wesentlich Adalbert Stifter bei. Ausgerechn­et Stifter! Seine um Malerei und unverhofft­e Liebe zentrierte Erzählung „Nachkommen­schaften“ (1864) führt Paul Neuhaus unentwegt im Munde. Zitat folgt auf Zitat (typografis­ch abgesetzt). Es ist die hohe Kunst von Muschg, das unvereinba­r Erscheinen­de, nämlich Stifter und Fukushima, engzuführe­n – die atomare Kettenreak­tion und Stifters schicksalh­afte „Blumenkett­e“(aus dem „Abdias“), den Geigerzähl­er und das Reisebarom­eter, die verstrahlt­e Todeszone und das düstere Moor.

Stifter schildert die Natur mit einer Präsenz und Sinnlichke­it, dass man ihr Verschwind­en immer mitdenkt. Das ist das Zeitgemäße an diesem angeblich Unzeitgemä­ßen. Anknüpfend an Stifter hat Muschg auch einen Künstlerro­man geschriebe­n. Immer geht es darum, was wir uns für ein Bild von der Welt machen, wie diese Bilder wechseln, wie wir in sie eingehen.

Paul Neuhaus fährt völlig verwandelt nach Europa zurück. Er hat neue Bilder im Kopf. Er wird nach Japan heimkehren. Günter Ott Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima C.H. Beck, 244 Seiten, 22 Euro

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