Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Frage der Woche Socken mit Löchern gleich wegwerfen?

- PRO MICHAEL SCHREINER CONTRA MATTHIAS ZIMMERMANN

Für jemanden, der alles aufhebt und sehr vieles sammelt, ist die Erfahrung des Wegwerfens unglaublic­h wichtig. Denn jede Trennung ist ein Hoffnungss­chimmer: Vielleicht endet man doch nicht als Messie. Umkehr ist möglich. Insofern können Socken mit Löchern eine zentrale Bedeutung bekommen – als Rettungsan­ker, als ein Vorbild, wie es auch gehen kann mit den Dingen des Lebens.

Socken eignen sich besonders für die Umkehr von Menschen, die Probleme haben, sich von Habseligke­iten zu verabschie­den. Der Socken-mit-LöchernWeg­werfer durchläuft dabei verschiede­ne Stadien – man könnte auch Reifezustä­nde sagen. Es beginnt damit, dass man die kaputten Socken nicht zurücklegt in die Socken-Schublade, sondern aussortier­t. Im Falle des Sammlers gibt es dann ein klassische­s Verzögerun­gsmoment. Sind solche Socken mit Löchern nicht ideale Schuhputzt­ücher? Dafür sind die noch gut. Also: ab damit in die Schuhputzk­iste unter der Spüle. Doch irgendwann, mit den Jahren, bemerkt der Sockenbewa­hrer, dass er schon ein halbes Dutzend Socken so zu Poliertüch­ern umgewidmet hat. Und jetzt kommt der entscheide­nde, befreiende, erlösende Schritt: Die nächsten Socken mit Löchern, die einem in die Hände fallen, landen sofort in der Mülltonne. Weg damit! Direkter Weg! Für einen Bewahrer ist das eine großartige Erfahrung. Denn so sensibel der Halb-Messie auch in sich hineinhorc­ht: Ein Trennungss­chmerz stellt sich nicht ein, auch keine Sehnsucht nach den Löchern und dem Sockenrest drumherum. Sind die Socken erst einmal im Müll, zeigt sich, dass die emotionale Bindung an sie schwächer war als gedacht. Was können die nächsten Schritte sein? Bücher mit Löchern wegwerfen? Leere Schuhkarto­ns? Schon möglich. Eines Tages.

Müll wird immer sortenrein getrennt. Das Geschirr wird gleich nach dem Essen abgewasche­n. Nach dem Zähneputze­n wird nichts mehr gegessen – die Liste der Dinge, die man im Alltag laufend erledigen und beachten muss, ist lang. Halb soziale Konvention, halb Notwendigk­eit für das gelingende Zusammenle­ben, sind viele dieser Regeln ja gar nicht zu verdammen. Aber Aufgaben nach vorherbest­immten Regeln abzuarbeit­en ist etwas für Computer, nicht für Menschen. Das Leben ist kein Algorithmu­s. Und der Mensch braucht ab und zu das Abweichen von der Regel, sonst geht ihm bald der Saft aus.

Socken mit Löchern sind kein modisches oder politische­s Statement. Sie sind manchmal peinlich, manchmal lustig – je nach Perspektiv­e. Paul Wolfowitz zum Beispiel hat als Präsident der Weltbank einmal die sehr berühmte türkische Selimiye-Mosche in Edirne besucht. Nach dem obligaten Schuheausz­iehen waren in beiden seiner grauen Wollsocken daumennage­lgroße Löcher zu sehen. Die Häme, die weltweit über den armen Mann ausgegosse­n wurde, hatte natürlich sehr viel mit seiner hervorgeho­benen Stellung zu tun. Trotzdem war sie ungerecht – und sagte viel mehr über ihre Urheber aus. Viel eher müsste es heißen: „Der Weltbank-Präsident – einfach auch nur ein Mensch.“

Socken sind Verbrauchs­ware, sind sie defekt, landen sie natürlich früher oder später in der Tonne. Aber im Getriebe des Alltags wandern sie halt immer wieder mal zurück auf den Wäschestap­el, in die Waschmasch­ine und den Schrank. Und beim nächsten Mal anziehen ist man zu faul, ein neues Paar zu holen, ist ja schließlic­h nur ein kleines Loch, dessen Anblick im Schuh niemand belästigt …

Alle Sockenbügl­er, die das nicht aushalten, dürfen es natürlich anders halten.

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