Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Erdogans Flüchtlinge
In den Augsburger Asyl-Unterkünften leben derzeit rund 150 Türken. Viele sind Ärzte, Journalisten und Lehrer – und Anhänger der Gülen-Bewegung. Sie finden in Augsburg Hilfe
G. Altay* war Englisch-Lehrer an Universitäten des weltweiten Gülen-Netzwerkes. Erst in Kasachstan, die letzten acht Jahre im nordirakischen Erbil. Jetzt lebt er mit Frau und vier Töchtern in einer Containerunterkunft in Augsburg. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, er klagt und wartet auf seine Verhandlung beim Verwaltungsgericht.
Die Altays sind türkische Staatsbürger. In Erbil verdiente er gut, lebte mit seiner Frau und vier Töchtern in einer Wohnung und hatte türkische, kurdische und arabische Nachbarn, die als Dozenten und Professoren ebenfalls an der IshikUniversity der politisch-religiösen Bewegung um den Geistlichen Fethullah Gülen arbeiteten. Bis letztes Jahr im Sommer. Da kidnappte der türkische Geheimdienst nach seinen Worten den ersten Kollegen und inhaftierte ihn in der Türkei. Sein Pass war abgelaufen und beim Termin im Erbiler Konsulat schlug der Geheimdienst zu. Die türkische Regierung macht die „Fethullaistische Terrororganisation“(Fetö) des Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch 2016 verantwortlich und jagt seine Anhänger seither.
Auch die Pässe der Altay-Kinder liefen 2017 ab, der Gang ins Konsulat war unausweichlich. Doch Altay wollte nichts riskieren. Er nutzte das Visum für Europa, das er wie viele Türken vorsorglich in der Tasche hatte, und floh mit Frau und Kindern nach Deutschland. Jetzt leben sie zu sechst in zwei von etwa 34 je zweistöckig übereinander gestapelten Metallcontainern.
Nebenan wohnt die Familie des Augenchirurgen Mesud. Er floh aus der Türkei. Zwar war das Krankenhaus, das er dort im Südosten lange geleitet hatte, ein staatliches und damit fetö-unverdächtig. Doch sein Konto bei der Gülen-Bank Asya und zwei Töchter auf einer Gülen-Schule machten ihn zum Terroristen. Als seiner Frau an der Haustür der Haftbefehl für ihn überreicht wurde, tauchte er unter. Ein halbes Jahr lebte der Professor auf der Straße. Schließlich, erzählt er, gelang ihnen mit Schleusern die Flucht nach Deutschland. Vor wenigen Tagen, nach neun Monaten Wartezeit, erhielt er die Anerkennung als Flüchtling. „Wir sind sehr dankbar! Jetzt können wir endlich neu anfangen“, sagt er.
Durch die behördliche Organisation ist Augsburg zu einem bayernweiten Zentrum für türkische Flüchtlinge geworden. Die Staatsregierung bringt sie gesammelt im Anker-Zentrum Donauwörth unter. Auch Altay und Mesud lebten zunächst dort. Seit diesem Jahr werden vor allem Türken aus der dortigen in die kleineren Unterkünfte am Kobelweg und nach Inningen verlegt. Derzeit wohnen hier 150 türki-
Staatsbürger. Auch ihre Asylanträge werden in Augsburg, bei der hiesigen Filiale des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bearbeitet. Und die Klagen gegen Ablehnungen landen beim Augsburger Verwaltungsgericht.
Wie verändert das den seit 22 Jahren bestehenden Augsburger Verein des Gülen-Netzwerks? Das Frohsinn Bildungszentrum und die angegliederten Einrichtungen haben gelitten seit dem Putschversuch, für den die meisten Türken die GülenBewegung verantwortlich machen: Übergriffe, Aufrufe zur Denunziation und sinkende Anmeldezahlen zwangen zur Schließung der vier Nachhilfegruppen, die von etwa 400 150 000 Menschen vor 2016 nahegestanden haben.
● Kritik Alle Institutionen stritten bis 2016 religiöse Zusammenhänge und die Existenz eines Netzwerks ab, obwohl vor allem kommunale Verantwortliche die Offenlegung von lokalen und überregionalen Strukturen forderten. Seit 2016 wird Transparenz versprochen. Zu der Anzahl der „Lichthäuser“fehlt sie bis heute. Diese autonom verwalteten, von je einem „Abi“(älterer Bruder) oder einer „Abla“(ältere
meist türkischstämmigen Schülern genutzt worden waren. Auch der Unternehmerverein legte seine Arbeit 2017 auf Eis. Die vier anerkannten und ausgebuchten Kindergärten hingegen laufen – auch, weil hier zumeist nichttürkische Kinder betreut werden.
Knüpfen die „Neuen“an das Augsburger Netzwerk an? Natürlich helfen wir, alles andere wäre unmenschlich, sagt Mehmet Badal. Zur Zeit betreut der Geschäftsführer mit drei Ehrenamtlichen der Bewegung 50 türkische Familien. 20 von diesen konnte er bereits eine Wohnung vermitteln. „Über diesen Erfolg bin ich selbst überrascht. Wenn es heißt ‚geflohen vor Erdosche Schwester) geführten Studentenund Studentinnen-Wohngemeinschaften gibt es in jeder größeren Stadt. An Wochenenden finden hier geschlechtergetrennt Freizeitaktivitäten und fromme „Sohbet-“(Gesprächs-)Kreise für türkischstämmige Kinder und Jugendliche statt. Diese Formate dienen der Bildung einer „goldenen Generation“(Fethullah Gülen), die eine islamkonforme und den Naturwissenschaften gegenüber aufgeschlossene Idealgesellschaft entwickeln soll. Die neue
gan‘ sind deutsche Vermieter offenbar sehr aufgeschlossen“, erklärt er lächelnd. Er schätzt, dass in Donauwörth und Augsburg etwa 300 geflohene Gülen-Sympathisanten seine Handynummer haben, unter ihnen auch 70 der aktuell 101 türkischen Staatsbürger im Kobelweg.
Sie sind Ärzte, Journalisten, Neurochirurgen, ehemalige Unternehmer und – vor allem – Lehrer. Alle sprächen perfekt Englisch. Ein Ingenieur fand kurz nach seiner Anerkennung bereits Arbeit bei einem Flugzeugkonstrukteur in München. Und die etwa zwölf Softwareentwickler, denen Badal derzeit behilflich ist, blieben sicher auch nicht lang arbeitslos, ist er sich sicher. Archivfoto: Marcus Merk deutsche PR-Zentrale der Bewegung, die Stiftung Dialog und Bildung in Berlin, erklärt auf Anfrage, zu diesen Wohngemeinschaften keine Zahlen nennen zu können.
● Asylanträge von türkischen Staatsbürgern in Bayern laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): 398 (2016), 575 (2017); 715 (2018). Statistik zu vorgebrachten Asylgründen gibt es keine.
● Die Anerkennungsquote stieg von 9,6 (2016) auf 31,8 Prozent (2018).
Nur wenige der türkischen Familien melden ihre Kinder in den Frohsinn-Kitas an. Auch Altay und Mesud nicht. Ihre Töchter, von denen keines ein Kopftuch trägt, sollen das staatliche deutsche System kennenlernen. Eines der Mädchen hat es auf ein Gymnasium geschafft. Einfach ist es nicht, gibt sie zu. Vor allem die Fachsprache in Mathe fällt ihr schwer. Ihre Fluchtgeschichte und die Zugehörigkeit ihrer Eltern zum Gülen-Netzwerk behält sie in der Klasse für sich. Denn „Terör“-Beschimpfungen von deutschtürkischen Mitschülern könne sie nicht gebrauchen, sagt die 17-Jährige.
*Namen der Flüchtlinge geändert