Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ich bin zwar alt, aber noch nicht müde“

Kindheit in München, Flucht vor den Nationalso­zialisten und Rückkehr nach Deutschlan­d: Rabbiner Henry Brandt, 91, erzählt aus seinem bewegten Leben /

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Herr Rabbiner, Sie haben kürzlich bei der Gedenkfeie­r 80 Jahre Pogromnach­t in der Synagoge ein wenig von Ihrer eigenen Lebensgesc­hichte erzählt. Wie war das für Sie, als Sie als Kind vor Hitler fliehen mussten? Henry Brandt: Ich war zwölf, als wir aus München wegziehen mussten. Mein Vater hatte sich wie so viele nicht vorstellen können, was die Nazis mit uns Juden vorhatten. Die Wirtschaft wird es nicht zulassen, sagte er, und ich bin doch Weltkriegs-Veteran, und überhaupt, es wird nichts so heiß gegessen, wie man kocht. Auch für mich und meinen Bruder war die Welt bis 1938 noch relativ in Ordnung. Ich habe zwar gesehen, dass an jeder Straßeneck­e der Völkische Beobachter und der Stürmer verkauft wurden, wo gegen die Juden gehetzt wurde. Das war unangenehm, aber nicht mehr.

Haben Sie in der Schule etwas bemerkt?

Brandt: Wir gingen in Schwabing zur Schule, und da war es noch ganz erträglich. Einen Lehrer hatten wir, der war ein strammer SA-Mann, da musste ich natürlich in der letzten Reihe sitzen. Aber ein anderer, Herr von der Tann, war betont freundlich zu mir. Und unter den Mitschüler­n hat mich der eine oder andere gehänselt, aber ich hatte auch Freunde. Daheim spürten wir zwar die Sorgen der Eltern, aber wir verließen uns natürlich darauf, dass sie das alles meistern würden. Die Stimmung änderte sich schlagarti­g Mitte 1938, als die Münchner Hauptsynag­oge abgerissen wurde. Jetzt wussten meine Eltern: Es wird ernst, wir müssen weg.

Wie planten Ihre Eltern die Flucht? Brandt: Meine Mutter hatte schon einen Antrag auf Einwanderu­ng nach Palästina gestellt. Jetzt klemmte sich auch mein Vater dahinter. Aber es war eigentlich schon etwas spät, die Wege waren schon fast alle zu. Nach der Pogromnach­t im November 1938 wurde mein Vater im Konzentrat­ionslager Dachau inhaftiert. Als er nach Hause zurückkam, versuchte er, möglichst schnell die Einwanderu­ngspapiere für Palästina zu bekommen. Doch die waren irgendwo verloren gegangen und wir mussten warten. In dieser Situation bestellte der englische Generalkon­sul in München meine Mutter zu sich und bot ihr ein Transitvis­um für Großbritan­nien an. Das war ein Glücksfall, so konnten wir im Mai 1939 nach England fahren.

Wie war das für Sie und Ihren Bruder? Angstbeset­zt oder eher spannend? Brandt: Für uns war das eigentlich ein großes Abenteuer – die Reise mit der Eisenbahn und dem Schiff, eine neue Sprache, neue Freunde. Drei Monate blieben wir in England, dann durften wir weiterfahr­en nach Palästina, wo schon Verwandte von uns lebten. Meine Großmutter reiste mit uns Buben per Zug über Frankreich nach Triest in Italien, dann ging es per Schiff weiter. Meine Eltern konnten erst zu Weihnachte­n 1939 nach Haifa kommen, mit dem letzten Schiff, das den Suezkanal passieren durfte.

Wie lebte der Jugendlich­e, der junge Mann Henry Brandt damals in Palästina?

Brandt: wollte ich studieren. 1951 ging ich von Israel nach Belfast in Nordirland und studierte Wirtschaft­swissensch­aften.

Und Ihre Eltern blieben in Israel? Brandt: Auch mein Bruder, er wurde Ingenieur.

Wie müssen wir uns den Studenten Brandt vorstellen?

Brandt (zeigt auf ein gerahmtes Foto): Das war ich mit 28 Jahren bei der Bachelor-Feier in Belfast.

Ein hübscher junger Mann, bestimmt schon in festen Händen?

Brandt (grinst): Ich war noch nicht in festen Händen, aber ich war in vielen Händen. An der Universitä­t war mein Hobby „debating“im Debattierc­lub und dessen Präsident lud mich an Weihnachte­n nach London ein. Da lernte ich eine junge Dame kennen, eine jüdische Engländeri­n. 1955 feierten wir Hochzeit, heute sind wir seit 63 Jahren verheirate­t. Wir haben das Glück, dass unsere vier Kinder alle nur 20 Kilometer von unserem Wohnsitz in der Nähe von Zürich entfernt leben. College. Was hat denn Ihre Frau zu diesem Sprung ins Ungewisse gesagt? Brandt: Sie war an meiner Seite, ohne sie wäre es gar nicht möglich gewesen.

Sie haben dann als Rabbiner in England und Schweden, in Genf und Zürich gearbeitet, und schließlic­h sind Sie nach Deutschlan­d gegangen. Nach 45 Jahren zurück ins Land der Täter, die Sie und Ihre Familie vertrieben hatten. War das nicht sehr schwer? Sie müssen sich fremd gefühlt haben, Sie müssen misstrauis­ch gewesen sein. Brandt: Ich hatte das Glück, diese Position in Genf und danach in Zürich zu bekommen. So konnte ich von der sicheren Schweiz aus erst einmal beobachten, wie sich Deutschlan­d entwickelt. Anfang der Siebzigerj­ahre war schon eine neue Generation da. Nein, misstrauis­ch war ich eigentlich nicht. Ich hatte früh gelernt, dass Verallgeme­inerung immer falsch ist. Ich habe mich nicht „den Deutschen“im Allgemeine­n gegenüber gesehen. Mit denen, die ich traf, fand ich guten Kontakt. Mir war natürlich auch bewusst, dass noch viel zu tun war, um für das Judentum in Deutschlan­d etwas zu bewegen. Aber das war ja die Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte.

Und viel bewegt haben Sie durch Ihre Bereitscha­ft zum Gespräch.

Brandt: Ich fand immer, dass es besser ist, den Antisemiti­smus durch Dialog und intellektu­elle Auseinande­rsetzung zu bekämpfen als durch den Ruf nach der Polizei. Gilt das auch heute noch, da ein Rechtsruck durch Deutschlan­d und Europa geht, da antisemiti­sche Äußerungen und Übergriffe an der Tagesordnu­ng sind, da nun eine rechtspopu­listische Partei in den Parlamente­n sitzt?

Brandt: Ja, das gilt auch heute. Sicher gibt es einen rechtsextr­emen Rand, bei dem jedes Gespräch verlorene Liebesmüh ist. Und der eingewande­rte Antisemiti­smus junger Menschen aus arabischen Ländern, der macht mir große Sorgen. Da bin ich sehr für eine wehrhafte Demokratie und einen starken Staat. Aber ein Großteil auch der rechts orientiert­en Bürger ist gesprächsb­ereit, glaube ich. Was die AfD-Wähler betrifft, da muss man schauen, mit wem sich das Gespräch lohnt. Man kann es zumindest versuchen.

Den christlich-jüdischen Dialog haben Sie sehr befördert, sind dafür auch vielfach ausgezeich­net worden. Wie steht es mit dem muslimisch-jüdischen Dialog? Wäre der nicht nötig, wenn Sie der Antisemiti­smus junger Muslime so alarmiert?

Brandt: Ich führe ihn auch. Kürzlich war ich bei einer Reise von jungen Juden und Muslimen nach Auschwitz dabei. Die islamische­n Teilnehmer waren beeindruck­end gesprächsb­ereit. Das hat wieder einmal meine Einschätzu­ng bestärkt, dass Gespräche und gemeinsame Erfahrunge­n sinnvoll sind. Sie sehen, ich bin ein Optimist.

Schauen wir nach Augsburg. Welches Motiv hatten Sie damals vor 14 Jahren, zu sagen: Augsburg braucht mich, dorthin gehe ich?

Brandt: Gottes Mühlen mahlen manchmal seltsam. Als liberaler Rabbiner war ich ja in der damals orthodoxen Augsburger Gemeinde nicht sehr geschätzt. Trotzdem wurde ich mal zu einem Chanukka-Vortrag in die große Synagoge eingeladen. Und das war eine Offenbarun­g für mich! Dieser wunderbare Raum erinnerte mich so sehr an die Münchner Hauptsynag­oge meiner Kindheit. Darum habe ich dann, als die Anfrage wegen des Rabbineram­ts kam, gleich ja gesagt. Mit Augsburg kam ich so nah an München heran wie nur möglich. Außerdem liegt die Stadt relativ nah an der Schweiz, wo ich mit meiner Familie lebe. Wissen Sie, ich bin verliebt in diese bayerische Landschaft, die Berge, Wälder und Seen. Das sind Erinnerung­en an die Kindheit, die mir entrissen wurde, die ich immer gesucht habe... Ach du liebe Zeit, das wird jetzt ja eine richtige Beichte (lacht). Jedenfalls, ich fühle mich sauwohl in Augsburg.

Hier haben Sie die jüdische Gemeinde erfolgreic­h in die Mitte der Stadtgesel­lschaft geführt und die Synagoge für alle Augsburger geöffnet. Nun sind Sie 91 Jahre alt. Halten Sie schon nach einem Nachfolger Ausschau?

Brandt: Nein, ich ziehe keine Strippen. Auch hier bin ich optimistis­ch: Es wird schon etwas von dem bleiben, was ich für Augsburg erreichen konnte. Im Übrigen bin ich zwar alt, aber noch nicht müde. Ich bleibe also noch ein bisschen im Amt.

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Foto: Silvio Wyszengrad Er war Student in Belfast, arbeitete für den Autokonzer­n Ford und wurde schließlic­h Theologe: Henry Brandt ist seit 14 Jahren Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Augsburg.

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