Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Titanen können auch anders
Bei Beethoven pocht nicht dauernd das Schicksal, und Schostakowitsch schrieb nicht immer nur in Verzweiflung. Das zeigten die Philharmoniker – und ein glänzender Solist
Im Augenblick der Not muss der Blick nicht zwingend in die Ferne gehen. Das Rettende wächst zuweilen überraschend nahe. Den Augsburger Philharmonikern ist es so ergangen, als sie für ihr jüngstes Sinfoniekonzert einen Ersatzsolisten brauchten – Jung-Eun Shin, die neue 1. Konzertmeisterin des Orchesters, hätte eigentlich den Solopart von Beethovens Violinkonzert übernehmen sollen, war aber erkrankt. Weit musste man nicht schauen. Linus Roth, Violinprofessor am Augsburger Leopold-Mozart-Zentrum und künstlerischer Leiter des in diesem Jahr wieder stattfindenden Augsburger Violinwettbewerbs (siehe Artikel nebenan), sprang ein für die beiden Aufführungen im Kongress am Park. Ein Notfall, der sich als Glücksfall entpuppte.
Beethovens Opus 61 ist das Muster eines Instrumentalkonzerts, das nicht auf virtuose Schaustellerei hin geschrieben ist, sondern einen durchgängig lyrischen Grundcharakter besitzt. Was nicht heißt, dass die Solovioline sich hier unter den Tisch verkriechen würde, wohl aber, dass über weite Strecken insbesondere die kantablen Seiten des Instruments gefordert sind. Linus Roth gelingt der Spagat zwischen aristokratischer Zurückhaltung und wohldosierter solistischer Extroversion bestens. Sein Ton ist schlank, besitzt jedoch einen festen Kern, und die bei aller Feindifferenzierung nie nachlassende Entschiedenheit, mit der Roth die Saiten streicht, lässt das Lyrische dieses Konzerts zu keiner Zeit ins Gefühlige abkippen. Dass Roth seinen Beethoven auch nicht einfach bloß drauf hat, sondern bis ins Detail durchdacht hat, das zeigen Momente wie etwa im langsamen Satz, wo der Geiger derart erlesen artikuliert, dass im Saal einer jener Momente entsteht, den Konzertbesucher stets so sehnsuchtsvoll erwarten, der ihnen aber doch nur selten zuteilwird – andächtige Stille im Saal, das Kollektiv ist ganz Ohr.
Bei aller Beseeltheit im Larghetto, aller violinistischen Leichtigkeit im finalen Rondo, versteht sich Linus Roth natürlich auch auf die große virtuose Geste, wofür die beiden Kadenzen (von Fritz Kreisler) reichlich Gelegenheit boten. Und das galt auch für die Zugabe, die hoch anspruchsvolle 3. Sonate („Ballade“) von Eugène Ysaÿe. Bleibt nur zu hoffen, dass man die- sen so glänzenden wie nahe liegenden Solisten noch öfter in Konzerten der Augsburger Philharmoniker erleben wird.
Lancelot Fuhry, 1. Kapellmeister des Orchesters, dirigierte das Orchester bei Beethoven ganz aus dem lyrischen Gedanken heraus – wunderbar Holz und Hörner im langsamen Satz –, nur an vereinzelten Stellen entglitten die Zügel und brachten altbeethovensche Bärbeißigkeit mit sich. Schon eher geboten war das klangliche Äquivalent zum herkömmlichen Schicksals-Beethoven bei Rodion Schtschedrins orchestraler Reflexion über das „Heiligenstädter Testament“, jenes erschütternde Dokument Beethovens über seine fortschreitende Taubheit. Scharf aufzuckende Motivkürzel wechseln hier ab mit wuchtigen Bläsergängen und elegischen Streicherpassagen, um am Ende eines oft bedrohlichen anmutenden „Durch Nacht“-Schreitens in ein hoffnungsvoll aufgehelltes „Zum Licht“-Finale zu münden.
Der auf Beethoven zurückgreifende Russe Schtschedrin bildete das Bindeglied zum Abschluss des Programms, zu Dmitri Schostakowitsch. Vergleichbar mit Beethoven zählt auch Schostakowitsch zu den Komponisten in der KlischeeKlemme, gilt er doch als der große Schmerzensmann der russischen Musik im 20. Jahrhundert, ein Künstler, der von der stalinistischen Repression ebenso wenig verschont blieb wie vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Wie ganz anders als die mittleren und späten Orchesterdramen ist jedoch die 1. Sinfonie! Der Geniestreich des noch nicht 20-Jährigen atmet ganz das Kolorit der 1920er Jahre, die großstädtische Unbekümmertheit einer Generation, die allem romantischen Überschwang eine Absage erteilte und an seine Stelle eine neue Lakonik des Ausdrucks setzte.
Bei Schostakowitsch schlägt sich das in der auf Tonalität kaum Rücksicht nehmenden Linearität des Satzgefüges nieder, die die einzelnen Motive oft wie Bälle hin und her durch die Register fliegen lässt – ein orchestrales Tiki-Taka, das den Augsburgern auch hinreißend flüssig gelang. Und doch legte Lancelot Fuhry das Augenmerk nicht nur auf die kontrapunktische Finesse des jungen Schostakowitsch, sondern verhalf auch der vertikalen Komponente zu ihrem Recht, was insbesondere der herben Klangschönheit des dritten Satzes zugutekam. Eine gedämpft heitere, sportlich spannkräftige, auch in den Ruhemomenten innerlich pulsierende Wiedergabe – die allenfalls in ein paar seltenen Augenblicken die Verzweiflungen des späteren Meisters erahnen ließ.
Die Bälle fliegen wie beim Tiki-Taka