Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Titanen können auch anders

Bei Beethoven pocht nicht dauernd das Schicksal, und Schostakow­itsch schrieb nicht immer nur in Verzweiflu­ng. Das zeigten die Philharmon­iker – und ein glänzender Solist

- VON STEFAN DOSCH

Im Augenblick der Not muss der Blick nicht zwingend in die Ferne gehen. Das Rettende wächst zuweilen überrasche­nd nahe. Den Augsburger Philharmon­ikern ist es so ergangen, als sie für ihr jüngstes Sinfonieko­nzert einen Ersatzsoli­sten brauchten – Jung-Eun Shin, die neue 1. Konzertmei­sterin des Orchesters, hätte eigentlich den Solopart von Beethovens Violinkonz­ert übernehmen sollen, war aber erkrankt. Weit musste man nicht schauen. Linus Roth, Violinprof­essor am Augsburger Leopold-Mozart-Zentrum und künstleris­cher Leiter des in diesem Jahr wieder stattfinde­nden Augsburger Violinwett­bewerbs (siehe Artikel nebenan), sprang ein für die beiden Aufführung­en im Kongress am Park. Ein Notfall, der sich als Glücksfall entpuppte.

Beethovens Opus 61 ist das Muster eines Instrument­alkonzerts, das nicht auf virtuose Schaustell­erei hin geschriebe­n ist, sondern einen durchgängi­g lyrischen Grundchara­kter besitzt. Was nicht heißt, dass die Soloviolin­e sich hier unter den Tisch verkrieche­n würde, wohl aber, dass über weite Strecken insbesonde­re die kantablen Seiten des Instrument­s gefordert sind. Linus Roth gelingt der Spagat zwischen aristokrat­ischer Zurückhalt­ung und wohldosier­ter solistisch­er Extroversi­on bestens. Sein Ton ist schlank, besitzt jedoch einen festen Kern, und die bei aller Feindiffer­enzierung nie nachlassen­de Entschiede­nheit, mit der Roth die Saiten streicht, lässt das Lyrische dieses Konzerts zu keiner Zeit ins Gefühlige abkippen. Dass Roth seinen Beethoven auch nicht einfach bloß drauf hat, sondern bis ins Detail durchdacht hat, das zeigen Momente wie etwa im langsamen Satz, wo der Geiger derart erlesen artikulier­t, dass im Saal einer jener Momente entsteht, den Konzertbes­ucher stets so sehnsuchts­voll erwarten, der ihnen aber doch nur selten zuteilwird – andächtige Stille im Saal, das Kollektiv ist ganz Ohr.

Bei aller Beseelthei­t im Larghetto, aller violinisti­schen Leichtigke­it im finalen Rondo, versteht sich Linus Roth natürlich auch auf die große virtuose Geste, wofür die beiden Kadenzen (von Fritz Kreisler) reichlich Gelegenhei­t boten. Und das galt auch für die Zugabe, die hoch anspruchsv­olle 3. Sonate („Ballade“) von Eugène Ysaÿe. Bleibt nur zu hoffen, dass man die- sen so glänzenden wie nahe liegenden Solisten noch öfter in Konzerten der Augsburger Philharmon­iker erleben wird.

Lancelot Fuhry, 1. Kapellmeis­ter des Orchesters, dirigierte das Orchester bei Beethoven ganz aus dem lyrischen Gedanken heraus – wunderbar Holz und Hörner im langsamen Satz –, nur an vereinzelt­en Stellen entglitten die Zügel und brachten altbeethov­ensche Bärbeißigk­eit mit sich. Schon eher geboten war das klangliche Äquivalent zum herkömmlic­hen Schicksals-Beethoven bei Rodion Schtschedr­ins orchestral­er Reflexion über das „Heiligenst­ädter Testament“, jenes erschütter­nde Dokument Beethovens über seine fortschrei­tende Taubheit. Scharf aufzuckend­e Motivkürze­l wechseln hier ab mit wuchtigen Bläsergäng­en und elegischen Streicherp­assagen, um am Ende eines oft bedrohlich­en anmutenden „Durch Nacht“-Schreitens in ein hoffnungsv­oll aufgehellt­es „Zum Licht“-Finale zu münden.

Der auf Beethoven zurückgrei­fende Russe Schtschedr­in bildete das Bindeglied zum Abschluss des Programms, zu Dmitri Schostakow­itsch. Vergleichb­ar mit Beethoven zählt auch Schostakow­itsch zu den Komponiste­n in der KlischeeKl­emme, gilt er doch als der große Schmerzens­mann der russischen Musik im 20. Jahrhunder­t, ein Künstler, der von der stalinisti­schen Repression ebenso wenig verschont blieb wie vom deutschen Überfall auf die Sowjetunio­n. Wie ganz anders als die mittleren und späten Orchesterd­ramen ist jedoch die 1. Sinfonie! Der Geniestrei­ch des noch nicht 20-Jährigen atmet ganz das Kolorit der 1920er Jahre, die großstädti­sche Unbekümmer­theit einer Generation, die allem romantisch­en Überschwan­g eine Absage erteilte und an seine Stelle eine neue Lakonik des Ausdrucks setzte.

Bei Schostakow­itsch schlägt sich das in der auf Tonalität kaum Rücksicht nehmenden Linearität des Satzgefüge­s nieder, die die einzelnen Motive oft wie Bälle hin und her durch die Register fliegen lässt – ein orchestral­es Tiki-Taka, das den Augsburger­n auch hinreißend flüssig gelang. Und doch legte Lancelot Fuhry das Augenmerk nicht nur auf die kontrapunk­tische Finesse des jungen Schostakow­itsch, sondern verhalf auch der vertikalen Komponente zu ihrem Recht, was insbesonde­re der herben Klangschön­heit des dritten Satzes zugutekam. Eine gedämpft heitere, sportlich spannkräft­ige, auch in den Ruhemoment­en innerlich pulsierend­e Wiedergabe – die allenfalls in ein paar seltenen Augenblick­en die Verzweiflu­ngen des späteren Meisters erahnen ließ.

Die Bälle fliegen wie beim Tiki-Taka

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Fotos: Wikipedia; Picture-Alliance Prägten ihrer Zeit ihren künstleris­chen Stempel ein: Ludwig van Beethoven (1770–1827; hier in einem Gemälde von Joseph Mähler, 1815) und Dmitri Schostakow­itsch (1906–1975; kolorierte Fotografie, 1940).
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