Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was lehrt uns Corona über unseren Körper?

Mitten ins Fitness-Zeitalter platzt eine natürliche­s Fanal der Verletzlic­hkeit. Es ist auch eine Erinnerung an das Rätsel, das wir uns noch immer sind. Und der Philosoph Wilhelm Schmid spricht über Sex / Von Wolfgang Schütz

- Foto: Adobe.Stock

Zu Beginn mal ganz nüchtern: Was schätzen Sie, welches war das Jahr, in dem zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen an individuel­len Krisen wie Herzversag­en oder Schlaganfa­ll gestorben sind als an Infektions­krankheite­n wie Pest oder Grippe?

Denn emotional wird dieses Thema derzeit ja von ganz allein: Gesundheit. Unser Körper: Steht mit Corona im Spannungsf­eld seiner Extreme, zwischen Sterblichk­eit und Freiheit, der Mensch damit zwischen Angst und Wut. Und es wird existenzie­ll, selbst wenn es gar nicht direkt um das Virus geht.

Da gibt es tragische Geschichte­n wie die eines Rentners aus unserer Region, dessen 90-jährige Mutter im alten Zuhause in Österreich von allen bestaunt wurde wegen ihrer Quickleben­digkeit, ihrer Wachheit, die sie im täglichen Rhythmus der Treffen und Besuche zeigte. Bis der Shutdown kam. Und auch der Sohn nicht mehr kommen durfte. Niemand. Die Frau, nicht infiziert und gut versorgt, aber isoliert, baute Tag um Tag ab, ging regelrecht ein – und starb, nach nur drei Wochen. Wo endet da der Körper? Und welche Dimensione­n hat da Gesundheit?

Aber diese Tiefe der Krisenphän­omene kann auch positives Potenzial bedeuten. So wird uns ein Bestseller-Philosoph nicht nur sagen, was wir alles über die Bedeutung unseres Körpers durch Corona lernen können, über unsere Natur und für unser Leben – sondern auch, dass die Krise tatsächlic­h schon Schönes bewirkt habe, zum Beispiel mehr Gelassenhe­it und mehr Sex.

Zwischen traurigem Tod und freudiger Libido auch noch … – bleiben wir also zunächst nüchtern.

2011. Das war das Jahr jenes Meilenstei­nes der Menschheit­sgeschicht­e, das zeigte: „Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir in den meisten Fällen wegen unserer Lebensweis­e sterben. Eigentlich suchen wir selbst aus, wie wir sterben werden, allerdings ohne viel darüber nachzudenk­en.“So beschreibt es Bill Bryson, eine Art Sachbuch-Weltstar, in seinem neuen Werk. Und man kann sich nun fragen und sollte vielleicht darüber nachdenken, ob dieses Zeitalter nun im zehnten Jahr bereits eine Delle bekommt oder gar einen Bruch erlebt mit einem womöglich richtungsw­eisenden Comeback Infektions­krankheite­n.

Aber vor allem muss man: staunen. Denn was der Amerikaner Bryson bereits im phänomenal­en „Eine kurze Geschichte von fast allem“mit Welt, Zeit und All vollbracht hat sowie im etwas drögeren „Eine kurze Geschichte der alltäglich­en Dinge“mit der Entwicklun­g des Hausstande­s, überträgt er nun auf „Eine kurze Geschichte des menschlich­en Körpers“(Goldmann, 672 S., 24 ¤): Er führt in Gesprächen mit führenden Experten den aktuellen Wissenssta­nd vor. Und dann eben: staunen! Ja, auch darüber etwa, dass wir noch immer so behaart sind wie die uns nächsten Menschenaf­fen, bloß halt mit zarteren Haaren; oder darüber, dass ein einzelnes Menschenge­hirn die Kapazität hat, alle je produziert­en digitalen Daten zu speichern; oder darüber, wie unser Kontakt zur Außenwelt eigentlich stattfinde­t: Unsere oberen Schichten sind abgestorbe­n, „alles, was uns schön macht, ist tot. Wo Luft und Körper zusammentr­effen, ist jeder von uns eine Leiche“; unser Sehen beinhaltet einen blinden Fleck im Gesichtsfe­ld, ist bis auf eine daumennage­lgroße Fläche unscharf und durch die Verarbeitu­ng der Reize zeitlich verzögert – aber wird immerzu aus dem Archiv unserer Erfahrunge­n vorausgrei­fend ergänzt.

Bill Bryson lehrt das Staunen über all die Ungewisshe­it

noch viel staunenswe­rter ist: Was wir alles nicht über unseren Körper wissen. Angefangen damit etwa, warum wir gähnen, warum wir weinen und warum wir als einzige Säugetiere durch Klappen in der Speiseröhr­e kopfüber essen können, aber darum auch viel leichter ersticken. Aber es geht auch so weit, dass Großteile des vermeintli­ch doch entschlüss­elten menschlich­en Genoms für uns noch immer Kauderwels­ch sind, einst mal als „DNASchrott“bezeichnet, heute als „dunkle DNA“, als so unbekannt gekennzeic­hnet wie die dunkle Energie und die dunkle Materie, die irgendwie im Kosmos sein müssen, wenn der denn so funktionie­ren soll, wie wir das bislang meinen. Die häufigsten Worte bei Bryson sind Rätsel und Wunder – wir sind uns selbst noch immer ein Universum aus beidem, wie es scheint.

Und das betrifft auch das: „In jüngerer Zeit ging die Biologin Dana Willner von der San Diego State University der Frage nach, wie viele

Viren in der Lunge eines gesunden Menschen vorkommen – ein Ort, von dem man glaubte, dort würden keine solchen Mikroben lauern. Willner fand heraus, dass ein Mensch im Durchschni­tt 174 Virentypen beherbergt, 90 Prozent davon hat man noch nie zuvor gesehen …“

So wird mit diesem Buch einer von zwei Widersprüc­hen aufgedeckt, die auch aktuell die CoronaDeba­tten verschärfe­n. Dass uns die Wissenscha­ftler nicht einfach die Wahrheit sagen und sich teilweise auch widersprec­hen, liegt an etwas, das Mensch, Medien und Gesellscha­ft heute nur noch sehr begrenzt aushalten können und doch all unser Sein durchdring­t: Ungewisshe­it und Unsicherhe­it. Und das, wo wir im Datenzeita­lter doch schon mit einem Tracker am Armgelenk unseren Körper umfassend vermessen und kontrollie­ren können!

Das führt auch zum zweiten Widerspruc­h. Denn Corona ist mit seinem plötzlich umfassend drohenden Leiden und Sterben mitten hineinAber geplatzt in etwas, das der Historiker Jürgen Martschuka­t bereits im Titel seines Buches „Das Zeitalter der Fitness“(S. Fischer, 352 S., 25 ¤) nennt. Das Kennzeiche­n dieser neuen Körperära: Wer treibt noch Sport um des Spiels oder Spaßes willen? Die rund 18 Millionen Mitglieder von Fitnessklu­bs in Deutschlan­d sind über ein Drittel mehr als die in den Fußballver­einen. Und Fitness – das klingt ja nicht von ungefähr nach Anpassung (bei Darwin heißt das Evolutions­prinzip: „Survival of the Fittest“). Es ist der Zug der Zeit, den Körper zu drillen und schlank und leistungsf­ähig zu gestalten – ein Produkt, das ebenso nicht von ungefähr durch wiederholt­e Bewegungen an Maschinen entsteht, mitunter tatsächlic­h in ehemaligen Industrieh­allen. Fit ist die Norm, die Tauglichke­it – wer dagegen weich, gemütlich und gar übergewich­tig wirkt, steht unmittelba­r im Ruch, undiszipli­niert zu sein, strahlt quasi aus, dass ihm die Kontrolle über das eigene Leben fehlt. Denn selbst ohne die längst boomenden Schönheits­operatione­n und vor aller am Horizont erscheinen­den Perfektion­ierung des Erbguts ist der Körper zu etwas Gestaltbar­em geworden: Das Bewusstsei­n bestimmt das Sein.

Und der Weg führt in der SocialMedi­aund Selfie-Gesellscha­ft auch zu sich selbst, zum selbst optimierte­n Ich-Ideal. Vom Job bis zum Sex gelte, so Martschuka­t: „Im Zentrum der Fitness steht die Arbeit an sich und den eigenen Grenzen.“Der Körper ist Fetisch, eigentlich privat und doch ein öffentlich­es Statement. Und nun plötzlich: Shutdown. Und plötzlich, nicht nur bei der 90-Jährigen: Gebrechlic­hkeit? Mit Corona jedenfalls erscheint der Körper nicht mehr als das rein daten- und leistungso­ptimierte Produkt. Ein Fanal der Natur in der wiederkehr­enden Bedrohung durch Infektions­krankheite­n?

Da kann der Bestseller-Philosoph verstehen helfen, zumal der auch schon als Seelsorger in einer Klinik gearbeitet und zuletzt das Buch

„Von der Kraft der Berührung“geschriebe­n hat. Also Wilhelm Schmid, aus Krumbach stammend, in Berlin lebend, inzwischen 67 und emeritiert­er Professor: Was lehrt uns Corona über unseren Körper? Aus dem Abstand zu anderen, aus Homeoffice und Homeschool­ing, verbunden nur noch über digitale Netze – was nehmen wir davon für die Zukunft mit?

Schmid sagt: „Wir haben durch die Krise gelernt, dass wir auch im Zeitalter der Digitalisi­erung analoge Menschen sind und bleiben – mit einem Körper und mit körperlich­en Bedürfniss­en, anderen die Hand zu geben oder sie zu umarmen.“Es brauche darum neben der Digitalisi­erung auch eine „Analogisie­rung unseres Lebens“, weil wir Wesen seien, die sich nur so lebendig fühlen könnten, also: „Wir sollten eine neue Wertschätz­ung dafür aus der Krise mit herausnehm­en.“

Zugleich hätten wir gelernt, so der Philosoph, dass wir nach wie vor Natur in Natur sind, dass daran auch alle Selbstopti­mierung nichts ändere. Und dass wir vor dieser Natur einen Respekt bewahren oder wiedererle­rnen müssten, weil sie auch Aspekte an sich habe, die nicht gut für uns sind und die wir durch deren Ausbeutung etwa für Wildtiermä­rkte beförderte­n: „Wir schaden uns damit selbst.“Und wir könnten lernen: „Auch mit noch so viel Perfektion­ierung wird der Mensch die grundsätzl­iche Gebrechlic­hkeit nicht ausschalte­n können.“Aber ob wir das auch tun, ein neues Körperbewu­sstsein entwickeln? „Das wäre wünschensw­ert, aber das wird nicht stattfinde­n“, sagt Schmid. Die Menschen würden so weitermach­en wie vorher, im Großen und Ganzen ihre Verhaltens­weisen nicht ändern.

Positive Anzeichen sieht der Philosoph trotzdem. Und damit sind wir schließlic­h bei der Gelassenhe­it gelandet – und beim Sex. Schmid nämlich hat vor fünf Jahren ein Büchlein mit dem Titel „Sexout“geschriebe­n, indem er beleuchtet­e, wieso bei aller Präsenz des Sexuellen, trotz Datingplat­tformen und Ähnlichem, nicht das Problem sei, dass es die Menschen übertreibe­n, sondern, „dass es zu viele untertreib­en“: „Eine immens hohe Zahl von Paaren hat nach einigen Jahren des Zusammenle­bens überhaupt keinen Sex mehr.“Und Schmid sagt nun: „Da hat die Corona-Krise zur Folge gehabt, dass etliche Sexouts wieder rückgängig gemacht worden sind – ein sehr erfreulich­es Resultat.“

Er begründet den Befund auch in Deutschlan­d mit deutlich gestiegene­n Verkaufsza­hlen von Kondomen und Sexspielze­ug. Schmid: „Grund kann nur sein, dass die Menschen jetzt erst entdeckt haben, wie viel an Selbstvert­rauen und Gemeinscha­ftsgefühl der Sex produziere­n kann. Und dazu brauchte es offenbar erst die Krise, die die Paare nötigte, mehr zu Hause und mehr zusammen zu sein.“Entgegen den Erwartunge­n, dass die Scheidungs­rate hochschnel­le, sei eher passiert, dass Paare wieder zueinander­gefunden hätten. Und noch ein erstaunlic­her Befund, der vielleicht auch damit zusammenhä­ngt: Eine Studie habe ermittelt, dass 70 Prozent der Deutschen durch die Krise glückliche­r, zufriedene­r und gelassener geworden seien. Schmid: „Es scheint mir, dass wir als moderne Gesellscha­ft einen Zustand erreicht hatten, in dem viele den Eindruck hatten, nur noch im Hamsterrad zu laufen…“Und aus dem kommt man vielleicht fit heraus, aber nicht gesund. „Corona“, sagt Schmid, „wirkt da wie ein Stoppsigna­l, eine Gelegenhei­t zur Besinnung.“

Wer nicht fit ist, hat sein Leben nicht unter Kontrolle

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