Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der Glaubenskrieg ums Impfen
Gesundheit Ein Impfstoff rettet Leben, darin sind sich die meisten Ärzte einig. Und doch gibt es immer wieder Bedenken: Eltern sind verunsichert, Kritiker säen Zweifel an der Schulmedizin. Doch nie wurde die Debatte so öffentlich geführt wie in Zeiten der
Landsberg/Augsburg Vor einigen Tagen hat Markus Söder ein Foto veröffentlicht. Es zeigt den bayerischen Ministerpräsidenten mit weiß-blauem Mundschutz und weit nach oben gekrempeltem Hemdsärmel, vor ihm Gesundheitsministerin Melanie Huml mit Gummihandschuhen und Spritze. Huml, die auch Ärztin ist, verabreicht Söder eine Zeckenschutzimpfung. „Impfen schützt“, hat der Landesvater dazu auf Facebook notiert. „Wir wollen keine Impfpflicht. Aber niemand braucht Angst vorm Impfen zu haben.“
Es ist ein bemerkenswertes Foto, selbst für Markus Söder, der auch in normaleren Zeiten zu einer speziellen Bildsprache neigt. Zwei hochrangige Politiker bei einer Impfung, dazu ein öffentliches Plädoyer für die Medizin. Was, bitte, ist da los?
Wer verstehen will, was hinter dem Söder-Foto steckt, muss sich die vielen Aufnahmen anschauen, die in den vergangenen Wochen entstanden sind: Von Menschen, die mit Plakaten gegen die Corona-Auflagen protestieren, gegen die Einschränkung der Grundrechte in der Pandemie, gegen Atemschutzmasken und immer wieder auch gegen einen möglichen Impfzwang. „Impfen tötet“ist auf manchen Transparenten zu lesen, andere Plakate richten sich gegen „Impfterrorismus“oder eine anonyme „Impfmafia“.
Die Impfung, eine der großen Errungenschaften der Medizin, ist für einige Menschen zum Schreckgespenst geworden, die Debatte über das Impfen zu einem Glaubenskrieg.
Auf den Corona-Demonstrationen protestiert eine bunte Mischung: Impfgegner laufen Seite an Seite mit Extremisten, Verschwörungstheoretikern oder Menschen, die ihre Sorge in Zeiten der Pandemie auf die Straße treibt. Sie alle eint ihr Ärger über die Bundesregierung, über die Corona-Regeln und der Hang dazu, offiziellen Darstellungen nicht mehr glauben zu wollen. Ihre Feindbilder sind die Bundeskanzlerin, Virologe Christian Drosten und Software-Milliardär Bill Gates, in den Augen vieler Verschwörungstheoretiker so etwas wie der oberste Bösewicht in der Krise.
Im Fall der Impfkritik hat der Protest sichtbar gemacht, was bisher meist nur im kleinen Kreis diskutiert wurde – in der Familie, mit Freunden, manchmal nicht mal mit denen. Von einem privaten, ja sogar intimen Thema ist das Impfen zu einer Angelegenheit geworden, die immer öfter öffentlich verhandelt wird, mehr noch als vor Einführung der Masern-Impfpflicht im vergangenen Jahr. Obwohl noch kein Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt wurde, fürchten immer mehr Menschen schon jetzt eine Impfpflicht. So viele, dass Kanzleramtschef Helge Braun Mitte Mai in die Offensive ging und verkündete: Wenn ein Impfstoff vorliege, sei es gut, wenn sich viele impfen lassen.
Aber das entscheide jeder selbst. Eine Impfpflicht werde es nicht geben. Jens Spahn, der im vergangenen Jahr die Masern-Impfpflicht durchgesetzt hat, wurde zuletzt auch in Bezug auf Covid-19 deutlich: „Die Vernunft gebietet, sich impfen zu lassen“, betonte der Bundesgesundheitsminister.
Die Zahlen geben ihm recht. Beispiel Masern: Bevor in den 1960er Jahren die Schutzimpfung eingeführt wurde, starben nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bei Masern-Epidemien jährlich zwei bis drei Millionen Menschen weltweit. Die vermeintliche Kinderkrankheit ist hochgefährlich. Allein zwischen den Jahren 2000 und 2017 sind nach Angaben der WeltgesundheitsorgaAttacke nisation WHO durch Impfungen schätzungsweise 21 Millionen Todesfälle verhindert worden. 110000 Menschen weltweit starben 2018 trotzdem noch an Masern, die meisten von ihnen Kinder unter fünf Jahren. Es sind Fälle wie diese, die Gesundheitsminister Spahn mit einer Impfpflicht verhindern will.
Der Großteil der Bevölkerung teilt seine Meinung. Die Impfquoten von Schulkindern lagen laut Robert-Koch-Institut über die gängigsten Impfungen verteilt bei etwa 90 Prozent, von zehn Kindern wird also nur etwa eines nicht geimpft. Und doch gibt es immer mehr Menschen, die sich viele Gedanken über das Impfen machen, die Bedenken haben – und auch das mit Vernunft begründen. Die wenigsten von ihnen sind radikal. Meist sind es Eltern, die verängstigt und verunsichert sind, weil sie sich fragen, was das beste für ihr Kind ist.
Die Zahl der radikalen Impfgegner ist dagegen vergleichsweise klein. Verschiedene Umfragen verorten sie meist bei ein bis zwei Prozent. Aber es gibt sie: Eltern, die ihre Kinder nicht gegen Tetanus oder Diphtherie impfen lassen wollen. Die ein Bußgeld in Kauf nehmen und vor Gericht ziehen, weil ihr Nachwuchs keine Masernschutzimpfung bekommen soll. Gerade erst hat das Bundesverfassungsgericht zwei Eilanträge von Eltern abgewiesen, die erreichen wollten, dass ihre ungeimpften Kinder trotzdem in einer Kindertagesstätte oder von einer Tagesmutter betreut werden. Die Begründung der Richter: Die Gesundheit vieler Menschen wiegt schwerer als der Wunsch der Eltern.
Es ist eine Debatte, bei der es um die ganz großen Dinge geht, Freiheit, Solidarität, körperliche Unversehrtheit. Letztlich kreist die ganze Diskussion um die Frage, die auch die Richter beantworten mussten: Was zählt mehr – die Gesellschaft oder das Individuum, das Wohl der Bevölkerung oder die Gesundheit des Einzelnen?
Mit einem Impfkritiker ins Gespräch über diese Themen zu kommen, ist nicht leicht. Nach und nach trudeln bei der Recherche Absagen ein, mehrere Anfragen bleiben unbeantwortet. Auch Rolf Kron will sich nicht äußern. Der Arzt und Heilpraktiker aus Kaufering gehört zu den bekanntesten Impfgegnern in Deutschland, in Landsberg hat er bereits Demonstrationen organisiert, zuletzt auch gegen die CoronaAuflagen. Kron verweist in seiner Absage auf einen Shitstorm, der über ihn hereingebrochen war, nachdem er im März in einem Video die Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus hinterfragt hatte.
Krons Impfthesen sind in vielen Videos im Internet dokumentiert, oft tausendfach angeklickt. Der Mediziner spricht darin mit ruhiger, angenehmer Stimme, erzählt seinem Gesprächspartner zwischendurch auch von seinem Gemüsegarten und dem Versuch, weniger Plastikverpackungen zu kaufen. Impfungen bezeichnet Kron als Gift und „eine
auf das Immunsystem“. Er spricht von unzähligen Impfschäden, die er in seiner Praxis behandelt habe, erwähnt Impfungen in Zusammenhang mit plötzlichem Kindstod. Als Arzt, sagt Kron, könne er die Eingriffe nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Es gebe, so der Impfgegner, „keinerlei Aussage zur Sicherheit von Impfungen“. Immer wieder fallen die Worte „Druck“und „Zwang“, wenn es um Behandlungen aus der Schulmedizin geht. Ihm selbst, betont Kron, sei es wichtig, vor allem die Naturgesetze zu berücksichtigen.
Krons Aussagen decken sich mit denen anderer Impfkritiker. Sie empfinden Impfungen als überflüssig und gefährlich. Kinder, heißt es oft, müssten gewisse Krankheiten einfach durchmachen. Das sorge am Ende für einen besseren Schutz als die Impfung. Babys bekämen darüber hinaus ausreichend Abwehrstoffe von ihrer Mutter und müssten nicht zusätzlich geimpft werden. Auch die Pharmaindustrie ist immer wieder im Fokus der Kritiker: Mit den Impfungen, so der Tenor, solle vor allem Geld gemacht werden.
Martin Lang hat diese Theorien schon oft gehört, er kennt die Argumente, die Impfgegner oder auch besorgte Eltern vorbringen. Lang ist Kinderarzt, seine Praxis liegt mitten in der Augsburger Innenstadt. Impfen
gehört für ihn zu den RoutineAufgaben. Zu Hochzeiten, erzählt der Mediziner, impfe er 20 bis 30 Mal am Tag. Bis vor einigen Jahren war Lang sehr verständnisvoll, wenn es um Bedenken der Eltern ging. Auf seiner Internetseite findet sich noch immer ein langer Eintrag, in dem der Arzt auf viele Sorgen eingeht. Mittlerweile hat sich sein Blick verschoben. „Ich bin jetzt seit 24 Jahren in dem Beruf und habe in dieser Zeit so oft die Vorteile des Impfens gesehen“, sagt Lang. Wer sein Kind nicht impfe, nehme in seinen Augen „ohne Not und ohne Verstand“Gefahren in Kauf. Gefahren, die ungleich gravierender sind als die Nebenwirkungen der Impfungen. „In 24 Jahren“, betont Lang, „habe ich keinen einzigen Impfschaden in meiner Praxis gehabt, nicht einmal einen Verdacht.“
Ungeimpfte Kinder werden deshalb heute nicht mehr von ihm behandelt – vor allem, um andere zu schützen, wie der Arzt sagt. „Impfen ist kein Individualthema, sondern ein Solidarthema“, betont Lang. In seine Praxis kämen auch junge Patienten, die eine Krebsbehandlung durchmachen oder durchgemacht haben. Kinder, deren Immunsystem so schwach ist, dass ein Erreger leichtes Spiel hätte. „Für solche Patienten“, sagt der Mediziner, „ist es eine Katastrophe, wenn sie sich mit Masern anstecken.“
Warum aber gibt es dann trotzdem immer wieder Skepsis, trotzdem immer wieder Bedenken? An der Universität Erfurt hat ein Forscherteam die Gründe für Impfkritik untersucht und fünf Aspekte herausgearbeitet. Da geht es um mangelndes Vertrauen in Impfungen oder ein zu großes Vertrauen in die eigene Gesundheit, aber auch um eher psychologische Komponenten. So lasse etwa das Bedrohungsgefühl immer mehr nach, schreiben die Forscher: Durch Impfstoffe sind viele gefährliche Krankheiten an den Rand gedrängt worden, sie kommen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr vor. Es wirkt also, als gäbe es keine Gefahr, die man eindämmen müsse.
Diesen Widerspruch hat auch Mediziner Martin Lang beobachtet: „Die Eltern, die mit Bedenken zu uns kommen, sind meist bestens geimpft. Viele Kinderkrankheiten“, sagt der Mediziner, „haben sie gar nicht erlebt.“
Immer noch sterben Kinder an Masern
Was zählt mehr: der Einzelne – oder das Wohl aller?