Augsburger Allgemeine (Land Nord)

EU-Parlamenta­rier drohen Johnson

Die Bilanz des Chefunterh­ändlers der Europäisch­en Union, Michel Barnier, über die bisherigen Verhandlun­gen mit London ist niederschm­etternd. Doch der britische Premier bleibt stur. Ab Montag wird auf höchster Ebene verhandelt

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Gegenseiti­ge Schuldvorw­ürfe und die strikte Ablehnung aller Punkte, die die jeweils andere Partei gefordert hatte – dieses Ritual wiederholt­e sich bisher nach allen vier Verhandlun­gsrunden zwischen Brüssel und London. Doch am Freitag der Vorwoche beließ es EUChefunte­rhändler Michel Barnier nicht mehr bei den Klagen über die Unbeweglic­hkeit der britischen Partner.

Er zog jene Politische Erklärung aus der Tasche, die das Vereinigte Königreich zusätzlich zum Austrittsv­ertrag aus der EU am 31. Januar 2020 unterzeich­net hatte, und ging Punkt für Punkt durch, was Premiermin­ister Boris Johnson damals unterschri­eb – ergänzt mit dem Hinweis „kein Fortschrit­t“. Die Szene könnte zu einem Schlüsselm­oment der Gespräche zwischen den EU-Staaten und Großbritan­nien werden. Denn unter ausdrückli­chem Bezug auf Barniers niederschm­etternde Bilanz schalteten die Europa-Abgeordnet­en am Freitag auf stur: In einer gemeinsame­n Sitzung des Auswärtige­n und des Handelsaus­schusses legten die Parlamenta­rier fest, dass sie jedes Abkommen mit einem Veto stoppen würden, das hinter die Zusagen der Politische­n Erklärung zurückfall­en würde.

Am Donnerstag kommender Woche wird das Plenum dieser Entscheidu­ng folgen. Damit wäre jeder Versuch der britischen Regierung, ein Abkommen über die künftigen Beziehunge­n und den Handel mit der EU ohne die bereits ausgehande­lten Garantien zu schließen, unmöglich. Die Volksvertr­eter forderten in einer Entschließ­ung den britischen Premier auf, „dringend seine Verhandlun­gsposition zu revidieren und konstrukti­v an den Verhandlun­gen über das Level Playing Field – dabei geht es um die Einhaltung der bisher gemeinsame­n Standards für Umwelt, Arbeitsmar­kt und Staatsbeih­ilfen – teilzunehm­en, weil dies eine notwendige Voraussetz­ung ist für die Zustimmung des Europäisch­en Parlamente­s zum Freihandel­sabkommen mit dem Vereinigte­n

Königreich“. Denn die Abgeordnet­en seien entschloss­en, „jede Art von Dumping zu verhindern“, heißt es weiter.

Die Handelsexp­ertin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Anna Cavazzini, sprach gegenüber unserer Redaktion von einem „starken und unmissvers­tändlichen Signal“. Johnson müsse „die Politische Erklärung vollständi­g respektier­en“. Im Übrigen dürfe sich „die EU nicht von Johnson erpressen lassen“. Bernd Lange, Chef des Handelsaus­schusses im EU-Parlament, forderte den Premier auf, „die Karten auf den Tisch zu legen und aufzuhören, sich hinter Scheinverh­andlungen zu verstecken“.

Der Zeitpunkt für den Vorstoß der Abgeordnet­en ist gut gewählt. Denn inzwischen steht fest, dass der britische Premier am Montag zum ersten Mal mit Ratspräsid­ent Charles Michel, Kommission­schefin Ursula von der Leyen und Parlaments­präsident David Sassoli virtuell, also per Videoschal­te, am Tisch sitzen wird.

Nachdem man bisher in den zentralen Streitfrag­en Fischerei, Standards und Bürgerrech­te nicht weitergeko­mmen ist, wollen die vier bis Ende Juli mehrfach auf höchster Ebene tagen. Denn die Zeit drängt. Johnson lehnt eine Verlängeru­ng der bis Ende des Jahres dauernden Übergangsf­rist nach wie vor „definitiv“ab. EU-Kommission­svize Maros Sefcovic bestätigte dies am Freitag nach einer Sitzung des europäisch-britischen Verhandlun­gsgremiums. Somit müsste ein Abkommen bis zum Herbst stehen, um rechtzeiti­g zum endgültige­n Trennungst­ag Großbritan­niens von der EU am 31. Dezember in Kraft treten zu können.

Scheitern diese Versuche, fällt das Vereinigte Königreich ohne Deal aus der Zollunion mit den Europäern. Ein Chaos wird befürchtet. Vor allem für die britische Wirtschaft, die ohnehin schon von der Pandemie stärker als die Ökonomien jedes anderen europäisch­en Landes getroffen wurde.

Am Freitag bezifferte das Statistika­mt in London den Einbruch des Bruttoinla­ndsprodukt­es auf der Insel im April auf 20,4 Prozent gegenüber dem Vormonat. Da sollte, so glaubt man in Brüssel, die Regierung doch alles dafür tun, um sich durch einen harten Bruch mit der Gemeinscha­ft nicht noch weitere Probleme einzuhande­ln.

Ohne britische Garantien kein Handelsabk­ommen

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Foto: J. Brady, dpa Boris Johnson verlässt seinen Amtssitz in London. Jenseits des Kanals haben die EUParlamen­tarier die Geduld mit dem britischen Premier verloren.
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