Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Angst der Opfer hat viele Ursachen
Anwältin Marion Zech vertritt Menschen, die sexuell missbraucht wurden. Während die Täter oft nach wenigen Jahren wieder freikommen, leiden die Opfer oft ein Leben lang. Ein Gespräch über Unsicherheit, Resozialisierung und den Fall Linus Förster
Wie viele Opfer sexuellen Missbrauchs sie bislang betreut hat, weiß Marion Zech nicht. „Tausende? Ich kann sie nicht mehr zählen. Ich mache das seit über 27 Jahren, es sind verdammt viele.“Die Augsburger Opferanwältin weiß aus ihrer langjährigen beruflichen Erfahrung, wie ihre Mandanten unter den Taten leiden, oftmals ein Leben lang. Umso mehr ärgerte sie sich, wie einige Leser auch, als sie in unserer Zeitung vergangene Woche das Interview mit dem verurteilten Sexualstraftäter und ehemaligen Landtagsabgeordneten Linus Förster las. Doch die Wut sei verflogen, als sie darüber nachdachte, erzählt sie.
„Als ich den Artikel las, war mein erster Impuls: Das geht gar nicht, einem Täter eine Plattform in der Öffentlichkeit zu geben“, sagt die 55-Jährige und fügt hinzu: „Aber ehrlicherweise muss man den Artikel differenziert betrachten“. Die Berichterstattung transportiere das Schicksal der Opfer in das Bewusstsein der Menschen und löse Sympathien für sie aus. „Opfer scheuen meist die Öffentlichkeit und leiden stumm vor sich hin. Durch die Reaktionen der Leser erhalten sie eine Solidaritätswelle, die ihnen guttut. Das finde ich positiv.“
Marion Zech weiß, wie schwer es für Missbrauchsopfer ist, wenn ihre Peiniger die Strafe abgesessen haben und wieder auf freien Fuß kommen. Vor diesem Zeitpunkt hätten viele große Angst – aus unterschiedlichen Gründen. Es gebe Betroffene, die sich vor Rache fürchten. Rache dafür, dass sie einst vor Gericht ausgesagt hatten. Laut Zech ist es gar nicht selten, dass verurteilte Täter noch im Gerichtssaal drohen. Die Anwältin schildert als Beispiel eine Szene, von der sie zuletzt in einem Vergewaltigungsprozess Zeugin wurde. „Nach dem Urteil sagte der Täter zu meiner Mandantin, wenn er wieder rauskomme, schiebe er ihr eine Pistole in ... . “Zech spricht den Satz nicht zu Ende.
Manche Opfer haben auch Sorge, erneut attackiert zu werden. Oft aber belaste die Betroffenen allein die blanke Angst vor einer Begegnung mit dem Täter enorm. „Sie wissen, dass das theoretisch überall, jederzeit und vor allem unerwartet passieren kann. In der Straßenbahn, im Fitnessstudio oder beim Einkaufen.“Laut Zech würden Opfer über die Freilassung des Täters oft direkt durch die Polizei informiert. „Oder es läuft über uns Anwälte.“
Die Unsicherheit, was eine Konfrontation auslösen könne, spiele bei Betroffenen dabei eine große Rolle. „Was macht das mit mir? War die jahrelange Therapie, die mich stabilisiert hat, dann umsonst? Kommt alles wieder hoch?“Laut Zech sind dies nur wenige von vielen Fragen, die Missbrauchsopfer nicht losließen. Die Fragen seien allerdings auch berechtigt.
„Eine Begegnung kann tatsächlich ein Trigger sein und zu einer Retraumatisierung führen“, weiß die Anwältin aus Erfahrung. Zu wissen, dass ihre Peiniger wieder frei herumlaufen, sei für die Betroffenen daher eine große Belastung. Manche Verunsicherung sei so groß, dass sie sich auf das Leben im Alltag auswirke. „Es gibt Fälle, in denen sich Mandanten sogar verschanzen. Sie trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Das kann sogar zur Folge haben, dass sie sich erneut von ihrem sozialen Umfeld distanzieren.“Unter diese Ängste mische sich teilweise aber auch Wut, berichtet Marion Zech weiter. Mandanten klagen gegenüber der Anwältin oft: Der Täter könne sich nach Absitzen der Strafe ein neues Leben aufbauen, aber das eigene sei kaputt. Oftmals dauerten die Therapien der Opfer länger als Haftstrafen der Sexualstraftäter. „Natürlich sehen die Betroffenen nicht, dass Täter auch Therapien machen müssen oder vielleicht vor einem privaten Scherbenhaufen stehen. Aber das kann man von ihnen auch nicht erwarten“, meint Zech.
Noch einmal auf den Artikel über Linus Förster angesprochen, sagt die Juristin, sie finde nicht, dass dieser sich darin explizit als Opfer dargestellt habe. „Zumindest hat er es nicht behauptet“, ergänzt die Augsburgerin. Aber Försters Grundtenor sei schon gewesen, seine große Fallhöhe zu betonen. Zech nennt ein paar Beispiele: „Dass er alles verloren hat, was er mal hatte, dass er ein bekannter Politiker war und jetzt ein Ex-Häftling ist, dass er gesundheitliche Probleme hat (...).“
Für Marion Zech sind Försters
Aussagen ein „untauglicher Versuch eines Mitleiderhaschens“. Sie betont aber auch, dass Täter generell ein Recht auf Resozialisierung hätten. „Die rechtliche Situation ist einfach die: Wenn jemand seine Strafe abgesessen und für seine Tat gebüßt hat, erhält er in unserer Gesellschaft eine zweite Chance.“Was im Rechtsstaat klar so festgelegt sei, empfänden Opfer allerdings anders.
„Meist glauben sie nicht daran, dass sich der Täter geändert hat. Manche befürchten, dass derjenige auch weiteren Menschen etwas antun könnte.“Wie die Opferanwältin über ihre vielen Berufsjahre hinweg beobachtet hat, kommt bei den Betroffenen deshalb Frust auf. „Gerade weil sie nicht von der Veränderung der Persönlichkeit des Täters überzeugt sind, fragen sie sich, wodie für sie das dann alles gemacht haben – die Befragungen der Polizei über sich ergehen zu lassen, sich einem Prozess zu stellen (...).“
Oft sei erst die Befürchtung, dass der Täter auch andere Menschen missbrauchen könnte, für Opfer die ausschlaggebende Motivation, überhaupt Anzeige zu erstatten. „Manche gehen ja über Jahre hinweg nicht zur Polizei, weil es sie zu viel Überwindung kostet.“Dass Linus Förster ein Buch über seine Zeit im Gefängnis schreibt, stößt der Rechtsanwältin sauer auf. Was so etwas bei Opfern auslösen kann, weiß sie ebenfalls aus ihren vielen Berufsjahren. „Für Opfer ist so etwas der Gipfel der Perversität. Sie bekommen den Eindruck, dass sich derjenige mit so etwas letztendlich an der Tat noch finanziell bereichern will.“Zwar würden Opfer schon erkennen, dass auch ein Täter vor einer zerstörten Existenz stehe. Aber es gebe einen wichtigen Unterschied. „Ein Täter stand vor der Entscheidung, zu einem Täter zu werden. Das Opfer hatte diese Entscheidung nicht.“Opferanwältin Marion Zech ist in dem Zuge froh, dass 1998 das sogenannte Opferanspruchssicherungsgesetz in Kraft trat. Ein Gesetz, sagt sie, das vielen unbekannt, aber wichtig sei.
Vor Einführung des Gesetzes sei es Opfern nahezu unmöglich gewesen, an die Einnahmen des Täters durch Buchveröffentlichungen etwa für ihre Schadenersatzansprüche zu gelangen. „Im Regelfall hatte der Täter bereits vor Erhalt der Beträge diesbezügliche Forderungen an Dritte, wie Angehörige oder Anwälte, abgetreten. Diese Geldbeträge konnten also nicht mehr gepfändet werden.“Das sei mit dem Gesetz zum Glück Vergangenheit. Opfer hätten seitdem ein gesetzliches Pfandrecht an solchen Honoraransprüchen, die ein Täter durch Vermarktung erlange, erklärt Zech.
Es gibt viele Aspekte – und das wird im Gespräch mit der bekannten Opferanwältin aus Augsburg immer wieder deutlich –, warum es für Betroffene nur schwer ertragbar ist, wenn ein Sexualstraftäter aus dem Gefängnis entlassen wird und in die Gesellschaft zurückkehrt.