Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die großen Männer müssen runter vom Sockel
Wir müssen die Denkmäler nicht gleich stürzen, doch ein kritischerer Umgang mit der Geschichte ist dringend notwendig
In Großbritannien haben Demonstranten die Statue eines Sklavenhändlers in den Fluss geworfen, das Churchill-Standbild in London beschmiert, in den USA wurde Kolumbus der Kopf abgerissen. Wie fest stehen die großen Männer unserer Geschichte auf dem Sockel?
Wenn selbst Christoph Kolumbus und Winston Churchill nicht mehr unantastbar sind, wird spürbar, dass Dinge ins Rutschen geraten. Der Entdecker der Neuen Welt und der unbeugsame Kämpfer gegen NaziDeutschland nichts als schlimme Rassisten, die nicht mehr öffentlich geehrt werden sollten?
Die Ausläufer des Bildersturms erreichen auch Deutschland. Wegen der Nazi-Barbarei und des Völkermords an den Juden ist der Umgang mit der eigenen Geschichte hierzulande ein besonders sensibles Thema. Im Schatten des Gedenkens haben sich andere Abscheulichkeiten verborgen, die jetzt ausgeleuchtet werden. Dazu zählt zum Beispiel die brutale Kolonialpolitik des Deutschen Reiches.
Wieso gibt es, fragen nun Aktivisten, in so vielen deutschen Städten Standbilder, Plätze und Straßen, die Otto von Bismarck zeigen oder nach ihm benannt sind. Bismarck war der Stifter der Einheit Deutschlands, so lernen es die Kinder in der Schule. Anfangs war der Fürst hartnäckiger Gegner eines deutschen Kolonialreiches, später sein Geburtshelfer. Er sorgte auch dafür, dass der belgische König den Kongo zu seiner Privatkolonie machen konnte und dort Millionen Afrikaner umkamen.
Und was ist eigentlich mit den ungezählten Straßen und Plätzen, die die Namen der Antisemiten Richard Wagner, Karl Marx und Martin Luther tragen? Müssen nicht auch sie dem kritischen Blick auf die eigene Geschichte weichen?
Die Antworten auf diese Fragen haben das Potenzial für eine hitzige Auseinandersetzung. Ohne
Zweifel haben diese Männer auf ihrem Gebiet Außergewöhnliches geleistet, haben mit ihrem Geist das Fundament dafür gelegt, dass die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hat. Um die Helden der eigenen Nation zu bewerten, sollten ihre Verdienste und Verfehlungen, ihr Gutes und ihr Schlechtes auf die Waage gelegt werden. Abzuziehen sind Entwicklungen nach ihrem Tode, die sie persönlich nicht mehr beeinflussen konnten.
Luther, Marx und Wagner waren üble Judenfeinde und auch charakterlich Unholde. Sie stehen in einer langen Tradition des Antisemitismus. Doch konnten sie ahnen, dass die Nazis die europäischen Juden ausrotten wollten? Nein, das konnten sie nicht. Marx konnte nicht wissen, dass er das theoretische Fundament für kommunistische Diktaturen legen sollte, wo ebenfalls
Millionen im Namen der Gerechtigkeit umgebracht wurden. Hat dieser Marx dennoch viel für die Befreiung der Ausgebeuteten geleistet? Ja, das hat er. Hat Richard Wagner eine magische Musik geschrieben. Ja, das hat er. Hat Martin Luther den Menschen geistige Freiheit gegeben? Ja, das hat er. Hat Bismarck Deutschland nach Jahrhunderten der Zersplitterung geeint? Ja, das hat er. Wusste der große Staatsmann, dass die Ausbeutung und Unterwerfung Afrikas ein Unrecht war? Ja, das wusste er.
Wer auf Straßen und Plätzen geehrt wird, ist seit Jahrtausenden ein Politikum. Schon im alten Ägypten versuchten die Nachfolger des Pharaos Echnaton, sein Andenken auszuradieren, weil der den Götterhimmel durcheinandergebracht hatte. Die demokratische Gesellschaft braucht keinen Bildersturm. Erklärtafeln an Statuen oder Straßenschildern können die Schwächen der Halbgötter beschreiben. Statt sie in den Fluss zu werfen, können Standbilder in Museen gebracht werden. Jede Epoche macht sich selbst ihr Bild.
Luther, Marx und Wagner waren Unholde