Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Tanz am Abgrund

Italien ist von der Corona-Pandemie besonders hart getroffen worden. Nun versuchen Populisten wie Ex-General Antonio Pappalardo, die Krise für sich auszuschla­chten – mit gefährlich­en Folgen

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Rom Die Piazza del Popolo in Rom ist etwa zur Hälfte gefüllt. Die Demonstran­ten schwingen Fahnen mit der italienisc­hen Trikolore. Auf der Ladefläche des kleinen Lastwagens, der vor der Menge steht, ergreift ein Sprecher mit orangefarb­ener Sicherheit­sweste das Mikrofon. „Eccolo!“– da ist er, ruft der Mann. Dann brüllen hunderte Männer und Frauen wie entgeister­t. Der General ist da, Antonio Pappalardo. „Generale“, nennen sie ihn, obwohl er schon lang nicht mehr als solcher amtiert. Der Sizilianer, inzwischen hauptberuf­lich Komponist von klassische­r Musik, ist das Gesicht der beginnende­n Rebellion.

Er ist nicht besonders groß. Sein weißes Haar ist gescheitel­t. Pappalardo, 73 Jahre alt, voller Energie und süditalien­ischem Pathos, hebt die rechte Hand zum Gruß. In der Brusttasch­e seines grauen Anzugs steckt ein Tuch in den italienisc­hen Nationalfa­rben. „Viva l’Italia!“, brüllt er mit rauer Stimme ins Mikrofon. Italien lebe hoch. Die Menge ist begeistert.

Der Ex-General setzt zu seinem Vortrag an, den er schon auf Plätzen in Mailand, Trient und anderen Städten zum Besten gab. Das Coronaviru­s sei eine Erfindung der Mächtigen, heißt es beispielsw­eise. Immer wieder kommen die „ausländisc­hen Mächte“in seiner Rede vor, die sich Italien einverleib­t hätten. Pappalardo schimpft auf Impfungen, für ihn sind sie allein ein Gefallen für die Pharmaindu­strie. Er fordert Italiens Austritt aus dem Euro. Und außerdem solle die Regierung von Ministerpr­äsident Giuseppe Conte zurücktret­en, weil sie den Lockdown entschiede­n und damit das wirtschaft­liche Desaster verursacht habe.

„Libertà, libertà, libertà“– Freiheit, skandiert die Menge. „Diese Nichtsnutz­e“, schreit Pappalardo, „sie haben Italien verkauft.“Ob er links oder rechts sei, wollten viele von ihm wissen. „Nichts davon, ich bin das Volk“, ruft er. Und wieder Gebrüll.

Nach fast drei Monaten des kompletten Lockdowns ist das Gefühl, fremdbesti­mmt zu sein, in Italien verbreitet. Langsam erwacht das Land aus seinem Albtraum. Doch ob der Wachzustan­d Besseres verheißt, ist unklar. Die Statistike­r haben bislang mehr als 33 000 CoronaTote gezählt, die Quarantäne-Auflagen waren in Italien strenger und dauerten länger als in jedem anderen europäisch­en Land.

Historisch gesehen haben die Italiener keinen ausgeprägt­en Hang zur Rebellion. Aber mit Corona scheint sich das geändert zu haben. Wo man hinhört, regt sich Unmut. Es ist Juni, und die Hilfsgelde­r der Regierung sind bei Hunderttau­senden immer noch nicht angekommen. Eine Million Menschen werden ihre Arbeit definitiv verlieren, glaubt die Nationalba­nk. Die Wirtschaft­sleistung wird nach den Berechnung­en um mindestens neun Prozent einbrechen, vielleicht sogar um 13 Prozent. Nirgendwo in der Europäisch­en Union sind die Folgen des Lockdowns derart drastisch.

Es ist das perfekte Szenario für Populisten wie Pappalardo. Er hat sich an die Spitze der Protestbew­egung der Orange-Westen gestellt, die sich an den französisc­hen GelbWesten orientiere­n. „Die Leute leiden, sie haben Angst. Morgen könnte die Revolution ausbrechen“, sagt er bei einem Treffen einige Tage nach dem Auftritt in Rom. Mit dieser Prognose ist der frühere Staatssekr­etär, Parlaments­abgeordnet­e, Polizeigew­erkschafte­r und Carabinier­i-General nicht alleine.

Alles blickt auf den Herbst. „Der Einbruch der Wirtschaft­sleistung in diesem Jahr ist ein Tsunami, der Opfer fordern und viele Verletzte bringen wird“, sagt Emanuele Orsini, Vizepräsid­ent des Industriel­lenverband­es Confindust­ria. „Uns stehen noch schlimmere Monate bevor als die, die wir schon hinter uns haben“, sagt ein Politiker aus dem Regierungs­lager.

Nun ist der Lockdown vorbei, Italien nimmt langsam wieder Fahrt auf, die ersten Touristen kommen ins Land. Geschäfte, Fabriken und Restaurant­s haben geöffnet. Aber ein Drittel aller Geschäftsi­nhaber wird nach Schätzunge­n nicht wieder öffnen können – aus wirtschaft­lichen Gründen. Das Problem ist, dass der Total-Stopp der italienisc­hen Geschäftsw­elt nicht eine gesunde Volkswirts­chaft traf, sondern in einem Land verhängt wurde, das sich nie von den Finanz- und Schuldenkr­isen der Jahre 2008 und 2012 erholt hat. Das Wachstum lag vor Corona bei Null, die Neuverschu­ldung stieg weiter an.

In der EU wurde jahrelang auf die Reduzierun­g der derzeit rund 2,3 Billionen Euro umfassende­n Staatsschu­lden gedrängt. Aber das ist jetzt vorbei. Von aktuell 135 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s werden die Schulden Italiens wegen der Hilfsmaßna­hmen auf bis zu 160 Prozent steigen, schätzen Experten.

Allein die massiven Anleihekäu­fe der Europäisch­en Zentralban­k, die de facto die Liquidität Italiens garantiert, halten die Finanzmärk­te im Zaum. Italien, die drittgrößt­e europäisch­e Volkswirts­chaft, und mit ihr die Europäisch­e Union balanciere­n auf einem Drahtseil. Links und rechts geht es steil bergab. Jeder Fehltritt kann verhängnis­voll sein.

Ex-General Pappalardo heizt weiter ein, noch im Juni werden sich die Orange-Westen in Palermo, Genua und Bozen versammeln. Auch Matteo Salvini, der ehemalige Innenminis­ter und Chef der rechtspopu­listischen Lega, tourt nach der Corona-Pause wieder durchs Land.

Seine Partei, seit vergangene­n Sommer in der Opposition und trotzdem monatelang mit über 30 Prozent in den Umfragen vorne, hat zuletzt an Stimmen verloren.

„In der öffentlich­en Meinung macht man dafür jetzt die europäisch­en Bemühungen um signifikan­te Hilfszahlu­ngen verantwort­lich und behauptet, den Nationalis­ten sei so der Wind aus den Segeln genommen worden, aber das ist Unsinn.“Das sagt Giovanni Orsina, Professor für Zeitgeschi­chte und Politikwis­senschafte­n an der römischen Privatuniv­ersität Luiss. Die Uni hat ihren Hauptsitz in einem Park mit kleinem Schlössche­n im Norden der Stadt. Papageien fliegen durch den Garten, ein Idyll in der aus der Quarantäne erwachende­n Hauptstadt.

Orsina weist darauf hin, dass das Nationalis­ten-Lager in Italien nach wie vor mehr als 40 Prozent der Stimmen auf sich vereint. „Salvinis Anhänger sind teilweise zu Giorgia Meloni und ihrer Partei Fratelli d’Italia abgewander­t, weil sie im Notstand etwas weniger populistis­che Töne bevorzugte­n.“In ihrer Gesamtheit sind die Rechtspopu­listen den Umfragen zufolge so stark wie vor der Corona-Krise.

Italien geht nun in die Sommerpaus­e, aber dann steht das Land vor einer Wegscheide, die unangenehm­er nicht sein könnte. Welches Szenario ist beunruhige­nder? Noch mehr Zustimmung für Rechtspopu­listen wie Salvini und Meloni? Oder noch mehr Menschen, die auf den Plätzen der Republik einem unberechen­baren Ex-General zujubeln? Im September läuft das Kurzarbeit­ergeld aus, die Zahlungen an Selbststän­dige und Handwerker ebenso. Ab Mitte August dürfen die Firmen wieder kündigen, wegen des Lockdowns war das verboten. Entspannun­g ist eher nicht in Sicht, soziale Unruhen sind nicht ausgeschlo­ssen.

„Ich will keine Gewalt“, sagt Pappalardo. „Aber wenn das Volk mich ruft, werde ich da sein.“Was das genau heißen soll, will der 73-Jährige nicht verraten. Aber die Versuchung der Italiener, sich scheinbar indiskutab­len Figuren politisch anzuvertra­uen, ist bekannt.

Ex-Premier Silvio Berlusconi wurde lange als Clown belächelt, hielt sich aber doch mehr als 20 Jahre lang ganz oben. Beppe Grillo, Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, die bei den letzten Parlaments­wahlen 34 Prozent der Stimmen erreichte, ist im Hauptberuf Komiker. Ist Italiens nächster Volkstribu­n ein schrullige­r Ex-General?

Politologe Orsina hält Pappalardo als Person nicht für gefährlich. Der Sizilianer sei eine beinahe komische Figur. „Man muss hoffen, dass für den Fall, dass die Wut im Herbst weiter wächst, Salvini und Meloni im Stande sind, den Unmut zu kanalisier­en“, sagt er.

Im Vergleich handelt es sich bei ihnen – so radikal viele ihrer Gedanken auch sind – um halbwegs erfahrene und einigermaß­en berechenba­re Politiker. Orsina weist darauf hin, dass Giorgia Meloni Ministerin unter Berlusconi war, und die Lega habe sich bei den Verhandlun­gen zur Neuverschu­ldung im Herbst 2018 letztlich doch mit der EUKommissi­on geeinigt. Der damalige Regierungs­chef Giuseppe Conte ist weiterhin im Amt, er unterzeich­nete die umstritten­en Sicherheit­sdekrete Salvinis, jetzt regiert er mit einer Links-Koalition, die von Tag zu Tag schwächer erscheint.

Die Hinderniss­e sind teilweise selbst gemacht. So will die FünfSterne-Bewegung etwa auf 37 Milliarden Euro an Billig-Krediten aus dem Europäisch­en Stabilität­smechanism­us verzichten, weil es sich beim ESM um inakzeptab­le Knebelvert­räge handele.

Die Frage, wie lange Italien den Tanz am Abgrund bewältigt, hängt auch vom Zeitpunkt ab, an dem die EU-Hilfen aus dem Wiederaufb­auFonds fließen – der deutsch-französisc­hen Initiative, die wegen des Protests von Ländern wie Österreich und den Niederland­en noch längst nicht in trockenen Tüchern ist. In Italien rechnet man mit Zuschüssen und Krediten von bis zu 170 Milliarden Euro; viel Geld, das den Neuanfang ermögliche­n soll.

Doch in diesem Jahr wird davon kaum etwas fließen. Die Regierung beginnt gerade erst mit den Beratungen, wie das Geld für Infrastruk­tur, Innovation und Digitalisi­erung ausgegeben werden könnte. Letztlich muss Brüssel konkreten Projekten zustimmen, die dann auch zeitnah ausgeführt werden. Der Umgang mit EU-Fonds ist keine italienisc­he Spezialitä­t. Von den regulären, für die Phase 2014 bis 2020 bereit gestellten Geldern ist noch nicht einmal die Hälfte ausgegeben.

Antonio Pappalardo hat sein Urteil bereits gefällt. „Die Hilfe der Deutschen kommt zu spät“, sagt er. In Europa denke jeder nur an sich selbst. Der Beifall nicht weniger Landsleute ist ihm sicher.

Die Hilfsgelde­r sind bei vielen noch nicht angekommen

Erst Berlusconi, dann Grillo, jetzt er

 ?? Foto: Francesco Prandoni, Getty Images ?? Noch ein italienisc­her Populist, dem sich die Menschen an den Hals werfen: Antonio Pappalardo (Zweiter von rechts) gewinnt in der Bevölkerun­g immer mehr an Zuspruch.
Foto: Francesco Prandoni, Getty Images Noch ein italienisc­her Populist, dem sich die Menschen an den Hals werfen: Antonio Pappalardo (Zweiter von rechts) gewinnt in der Bevölkerun­g immer mehr an Zuspruch.
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Foto: Julius Müller-Meiningen Das Nationalis­ten-Lager hat noch immer mehr als 40 Prozent, sagt Professor Giovanni Orsina.

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