Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Chinas Angst vor der zweiten Welle
Nachdem sich ein Großmarkt in Peking zum neuen Infektionsherd entwickelt hat, ruft die Regierung den Kriegszustand für die Millionenstadt aus. Doch wo kommt das Virus her?
Peking Nach dem größten Ausbruch des Coronavirus seit vielen Wochen in Peking geht die Angst vor einer neuen Infektionswelle um. Bei einem Krisentreffen wurden die Behörden der chinesischen Hauptstadt aufgefordert, in den „Kriegszustand“zu gehen, um einen zweiten Ausbruch der Lungenkrankheit Covid-19 zu verhindern. Dutzende neue Ansteckungen wurden seit Freitag auf einem riesigen Großmarkt festgestellt, über den der größte Teil der frischen Nahrungsmittel für die mehr als 20 Millionen Einwohner Pekings geliefert wird.
Was das für die Bewohner heißt, lässt sich im Ausgehviertel Sanlitun beobachten. Ein Wirt wischt die leeren Stühle seiner Terrasse blank. Vor einem nahen Supermarkt ermahnen Mitarbeiterinnen in roten Westen die Kundschaft vor dem Eingang mit einem Megafon, ihre Gesichtsmasken aufzuziehen und sich über das Scannen eines QRCodes zu registrieren. Und in den Wohnsiedlungen der Stadt achten die Wachmänner der Nachbarschaftskomitees wieder penibel darauf, niemandem Einlass zu gewähren, der nicht seine Handynummer und Ausweisdaten hinterlässt.
China hatte die Lungenkrankheit schon weitgehend im Griff, fast zwei Monate lang blieb Peking ohne Neuinfektion. Doch allein am Samstag meldete die nationale Gesundheitskommission nun landesweit 57 bestätigte Infektionen. Es ist die höchste Zahl seit April. 36 wurden in Peking festgestellt, davon 27 in Verbindung mit dem Markt.
Der Xinfadi-Markt gilt als größter Umschlagplatz für Landwirtschaftsprodukte in ganz Asien. Als klar war, dass so viele der Infizierten nachweislich dort waren, wurde das Areal, so groß wie 157 Fußballfelder, in der Nacht auf Samstag kurzfristig geschlossen. Auf sozialen Medien sind Videos zu sehen, in denen mehrere hundert bewaffnete Polizeikräfte in dem Viertel ausschwärmen, um die anliegenden Wohnsiedlungen abzusperren und Schulen zu schließen.
Minutiös haben die Behörden inzwischen tausende Proben ausgewertet und das Virus bis zu einem Schneidebrett zurückverfolgt, das zum Filetieren von importiertem Lachs verwendet wurde. Umgehend nehmen daraufhin große Supermarktketten sämtliche Lachsprodukte aus ihrem Sortiment. Gleichzeitig werden die Kontrollen sämtlicher Märkte der Stadt verstärkt, der für Montag geplante Unterrichtsbeginn der Pekinger Grundschulen erneut auf unbestimmte Zeit verschoben und die Wiederaufnahme von Fernbussen ins Umland ebenfalls storniert. Experten warnen schon, dass die Versorgung der Hauptstadt mit Lebensmitteln beeinträchtigt werden dürfte.
Nun sollen die rund 10 000 Mitarbeiter des Xinfadi-Marktes getestet werden – sowie jeder Kunde, der den Markt in den letzten zwei Wochen besucht hat. Bei ersten 500 Tests wurden am Samstag schon 45 Infektionen entdeckt, die zunächst als asymptomatisch eingestuft wurden und damit nicht in der landesweiten Statistik aufgeführt werden.
Peking habe jetzt einen „wichtigen Test“im Kampf gegen die Lungenkrankheit zu bestehen – den größten seit einer Phase der Ruhe im Land, sagte der Epidemiologe
Zeng Guang vom nationalen Gesundheitsamt der Global Times. Wie weit die Infektionen gestreut haben, lässt sich noch schwer abschätzen. Unter den Infizierten ist auch der Fahrer eines Shuttle-Busses des Pekinger Flughafens. Er habe den Xinfadi-Großmarkt bereits am 3. Juni besucht, sich danach unwohl gefühlt und am Freitag Fieber bekommen, so das Blatt. Er habe drei Krankenhäuser aufgesucht, bis bei ihm schließlich Covid-19 diagnostiziert worden sei. Dabei hat Peking, laut Aussage eines Sprechers der städtischen Gesundheitskommission in der China Daily, eigentlich 98 Labors mit einer Kapazität von mehr als 90 000 Tests pro Tag.
Bislang sind in China mehr als 83000 Corona-Infektionen offiziell bestätigt. 4634 Menschen starben. Der radikale Lockdown im Februar half, das Virus weitgehend unter Kontrolle zu bringen. Er brachte aber auch die Wirtschaft ins Wanken: Im ersten Quartal brach sie so stark ein, wie seit über 30 Jahren nicht. Während sich die Industrieproduktion mittlerweile wieder normalisiert hat, kämpft die Regierung mit Investitionspaketen darum, den Arbeitsmarkt im Niedriglohnsektor für die Millionen Arbeitsmigranten aus den Provinzen zu stabilisieren. Ein erneuter Lockdown hätte nicht nur für sie katastrophale Folgen.
Für solche Szenarien sei es „noch zu früh“, der Ausbruch sei schließlich „nur auf einen Stadtteil Pekings beschränkt“, sagt Jörg Wuttke, Leiter der europäischen Handelskammer in Peking. Den neuen Infektionsstrang bezeichnet er als „zu erwarten“. Ähnlich lautet der Tenor der chinesischen Staatsmedien, die zu weiterer Wachsamkeit mahnen. Laut der Global Times unterscheidet sich das auf dem Markt entdeckte Virus von den bisher im Land grassierenden Varianten. Dies ergebe sich aus einer Sequenzierung seines Genstamms, sagte Zeng Guang, Epidemiologe des Gesundheitsamtes, dem Blatt. Mittels Analysen aus anderen Ländern solle nun seine Herkunft ermittelt werden. China importiert Lachs aus mehreren Ländern wie Norwegen, Chile, Australien, Kanada und von den FäröerInseln. (mit Andreas Landwehr, dpa)
Angeblich schafft Peking allein 90000 Tests pro Tag