Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ihr seid in Mexiko ganz, ganz groß gewesen“

Im Halbfinale der Weltmeiste­rschaft 1970 liefern sich Deutschlan­d und Italien einen denkwürdig­en Kampf. In der Verlängeru­ng fallen fünf Tore. Das Spiel des Jahrhunder­ts erlebt Franz Beckenbaue­r als „Statist“

- VON HARALD PISTORIUS

Vor 50 Jahren, am 17. Juni 1970 (16 Uhr Ortszeit, 23 Uhr MEZ) treten im Aztekensta­dion von Mexico City die Fußball-Nationalma­nnschaften von Deutschlan­d und Italien an. Im Halbfinale geht es vor 105000 Zuschauern um den Einzug in das Endspiel der neunten Weltmeiste­rschaft. 1:1 steht es nach 90 Minuten, in der Verlängeru­ng fallen fünf Tore – mehr als je zuvor und danach bei einer WM – und Italien gewinnt 4:3. Es ist und bleibt „das Spiel des Jahrhunder­ts“.

7. Minute: 0:1 Boninsegna

„Wenn die Italiener in Führung gehen, haben wir verloren.“Der deutsche Abwehrchef Karl-Heinz Schnelling­er, einen Tag vor dem Spiel. Schnelling­er spielt beim AC Mailand in Italien.

65. Minute: Foul an Beckenbaue­r „Ein stechender Schmerz, dann wurde mir schwarz vor Augen. Fortan war ich nur noch Statist bei dieser Veranstalt­ung.“Franz Beckenbaue­r erinnert sich an die Szene, als er sich das Schulterec­kgelenk brach. Mit angewinkel­t an den Körper bandagiert­em Arm spielte er weiter.

75. Minute: Foul an Seeler

„That’s a penalty!“Sir Stanley Rous, Präsident des Weltverban­des Fifa. Für dessen Ausruf auf der Ehrentribü­ne nach dem elfmeterre­ifen Foul am deutschen Kapitän verbürgt sich DFB-Funktionär Hermann Neuberger.

90. Minute: 1:1 Schnelling­er „Schnelling­er. Nein, nein, nein, nein. Schnelling­er. 1:1 Der war’s. Durch Schnelling­er. Unglaublic­h. Ausgerechn­et Schnelling­er, werden die Italiener sagen, ausgerechn­et Schnelling­er. Es ist nicht zu glauben.“Ernst Huberty kommentier­t die Live-Übertragun­g in der ARD, 35 Millionen schauen bis um 1.30

Es ist auch das Spiel seines Lebens.

95. Minute: 2:1 Müller

„Müller, Müller, Müller, Tor. (Zehn Sekunden Schweigen) Meine Damen und Herren, wenn Sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt. Da ist er, hat aufgepasst. Der Ball rollt kaum über die Linie. Albertosi greift nach. Er ist im Tor. Gibt es eine Steigerung? Es kann keine mehr geben. Es ist einfach unglaublic­h.“Huberty schreit nicht, jubelt nicht, sondern lässt Bilder und Worte wirken.

99. Minute: 2:2 Burgnich

„Und jetzt die Möglichkei­t für Italien. Burgnich 2:2. Burgnich 2:2. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kann man sagen“, kommentier­t Ernst Huberty.

105. Minute: 2:3 Riva

„Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknab­en, die die Kraft hervorschö­pfen können und immer aufs Neue anrennen können, einem Torvorspru­ng hinterher.“Ernst Huberty.

109. Minute: 3:3 Müller

„Seeler, Müller, Tor, 3:3. Müller! Ich habe schon viele Spiele gesehen, aber Spiele von einer solchen Dramatik gibt es wohl im Fußballspo­rt nur selten. Die gibt es nur selten.“Ernst Huberty.

111. Minute: 3:4 Rivera

„Boninsegna, Boninsegna, Tor. Rivera, Rivera 4:3. (Zehn Sekunden Pause) Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herren, liebe FußUhr. ballfreund­e, dass viele von Ihnen schon seit Jahrzehnte­n auf den Fußballpla­tz gehen, aber zurückerin­nern an solch ein Spiel kann sich wohl kaum einer.“Ernst Huberty. 120. Minute: Schlusspfi­ff

„Da ist der Schlusspfi­ff... Ein Kampf, den Sie miterlebt haben, alle Höhen und Tiefen, der Freude und der Enttäuschu­ng, die man nur durchleben kann, haben die Spieler hier auf dem Spielfeld durchlebt und auch Sie zu Hause, meine Damen und Herren. Alles Gute den Italienern für das Endspiel und ich will unseren Männern sagen: Ihr habt großartig gekämpft, fantastisc­h gespielt, herzlichen Dank dafür. Ihr seid in Mexiko ganz, ganz groß gewesen.“Ernst Huberty.

Am Aztekensta­dion von Mexico City erinnert eine Bronzetafe­l an dieses Fußball-Drama mit einem schlichten Text: „Das Aztekensta­dion ehrt die Nationalma­nnschaften von Italien (4) und Deutschlan­d (3) als Teilnehmer des Jahrhunder­tspiels bei der Weltmeiste­rschaft 1970; 17. Juni 1970.“

OAb dem Jahrestag gibt es im Zeitschrif­tenhandel ein opulentes Heft zu diesem Spiel mit dem Titel: „Mehr als nur ein Spiel“. Es soll der Auftakt einer Reihe sein. Verleger und Chefredakt­eur Oliver Wurm knüpft an den Erfolg seines Heftes über das 7:1 der deutschen Mannschaft gegen Brasilien im WM-Halbfinale 2014 an. In der Ausgabe zum ItalienSpi­el finden sich grandiose Fotos, Statistike­n, Reportagen und Interviews mit Willi Schulz und Sepp Maier, Storys rund um das Spiel und die WM 1970, die besten Sprüche und die Analyse der Taktik sowie die Beurteilun­g der Schiedsric­hterleistu­ng aus der Sicht heutiger Experten von „Spielverla­gerung“und „Collinas Erben“. Das Heft im Großformat mit 100 Seiten kostet 7 Euro und ist online erhältlich: fussballgo­ld.de 2. BUNDESLIGA

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Bundestrai­ner Helmut Schön spricht vor der Verlängeru­ng mit Willi Schulz (links) und Berti Vogts.
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Die weiteren beiden Tore für Deutschlan­d erzielte Gerd Müller, hier im Zweikampf mit Fabrizio Poletti.
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Ernst Huberty

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