Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Augsburgs Händlern gehen die Räder aus
Die Radbranche hat von der Corona-Krise profitiert wie nur wenige andere. Die Händler im Wirtschaftsraum stehen damit allerdings vor großen Herausforderungen. Wie sie den Boom begründen und welche Folgen er hat
Eigentlich hat Björn Stiebling, einer der Inhaber der Fahrradzentrale Augsburg, keine Zeit für ein Gespräch mit unserer Redaktion. Er muss Räder verkaufen, am laufenden Band, von morgens bis abends. Die Mittagspause ist schon länger gestrichen und am Abend werden Überstunden gemacht. Doch dann findet er doch noch ein Zeitfenster, um uns zu berichten, welcher Boom derzeit in der Branche herrscht.
Stiebling und sein Kompagnon Jan Nicolaus erzählen von Kunden, die bis vor einigen Tagen bis zu einer Stunde lang Schlange standen, um ein Fahrrad zu kaufen oder es zur Reparatur zu bringen. Aber nicht der Abstandsregeln wegen, sondern weil so viele Augsburger plötzlich ein neues Rad haben wollen: „So etwas habe ich in 30 Jahren meiner Tätigkeit in dieser Branche nicht erlebt“, erzählt Stiebling.
Das Fahrradfahren boomt, das war schon vor der Corona-Pandemie so. Händler wie Max Gehl berichteten bereits vor einem Jahr davon, doch damals hätte keiner vermutet, dass es eine solche Steigerung geben könnte. „Wenn das so weitergeht, haben wir in vier bis sechs Wochen keine Räder mehr“, rechnen Björn Stiebling und Jan Nicolaus vor. Schon jetzt müssen sie etwa jeden dritten Kunden ohne Rad nach Hause schicken, weil sie nicht mehr das passende im Laden haben. Auch Max Gehl sagt: „Wir haben zwar noch Räder in allen Warengruppen, aber eben nicht mehr die volle Auswahl.“Vor allem bei Kinderrädern zwischen 20 und 24 Zoll sowie bei Mountainbikes im Preisrahmen zwischen 500 und 1500 Euro sei man schon sehr ausgesucht.
Die beiden Händler sind keine Ausnahme. Auch kleinere Geschäfte wie Zweirad Dreste im Augsburger Stadtteil Hochzoll berichten, dass das Angebot knapp wird. Man habe zwar gut eingekauft und noch Räder auf Lager, aber weil Nachbestellungen bei den Händlern nicht möglich sind oder bestellte Modelle nicht produziert werden können, ist das Angebot endlich. „Wer noch ein Fahrrad haben will, sollte sich schnell umsehen, sonst muss er eventuell bis zum nächsten Jahr warten“, sagt Stiebling.
Während die meisten Einzelhändler über einen drastischen Frequenzrückgang, sich stapelnde Waren und massive Umsatzeinbrüche klagen, haben die Fahrradhändler andere Sorgen. Björn Stiebling sagt: „Das Schöne an unserem Job ist das Gespräch mit dem Kunden. Aber im Moment ist es eher Massenabfertigung, was wir machen. Das geht langsam an die Substanz.“Zum Glück trete seit einigen Tagen eine Normalisierung ein. Das berichtet auch Max Gehl: „Schlange stehen muss man bei uns nicht.“
Die Händler und ihre Teams sind dennoch im Dauereinsatz – nicht nur in der Beratung und im Verkauf, sondern auch in den Werkstätten. Bei Dreste nimmt man aktuell nur noch eigene Kunden an. Aber auch sie müssen je nach Art der Reparatur mit Wartezeiten rechnen.
Bei der Fahrradzentrale sieht es ähnlich aus. Bei Gehl in der LiseMeitner-Straße in Kriegshaber habe man aktuell fünf Wochen Vorlauf. Das sei allerdings zu dieser Jahreszeit nicht ganz unüblich.
Der Grund für den FahrradBoom ist aus Sicht der Händler schnell gefunden. Schon vor der Pandemie sei Fahrradfahren wegen vieler Umweltdebatten stärker in den Fokus gerückt. Die Corona-Beschränkungen hätten dies verstärkt. Weil die Menschen mit Straßenbahn und Bus der Ansteckungsgefahr wegen vermeiden wollen, steigen sie aufs Rad um. Dazu werden Fahrradtouren auch als Ersatz für den ausgefallenen Urlaub immer beliebter. „Dabei hat so mancher festgestellt, dass sein bisheriges Modell nicht mehr allen Ansprüchen gerecht wird“, erzählen die Verkäufer.
Das Geld für den Neukauf sei beim Kunden vorhanden, weil vielfach der Urlaub wegen Corona flachgefallen ist. Die beiseitegelegte Summe werde jetzt in neue Räder – manchmal sogar für die ganze Familie – investiert. Das hat dazu geführt, dass Fahrradhändler den Lockdown gut überstanden haben. „Die Umsatzeinbußen hatten wir binnen einer Woche wieder drin“, erzählt Björn Stiebling von der Fahrradzentrale.
Auch Zweirad Dreste berichtet, dass man mit den Umsatzzahlen sehr gut im Plan liege. Etwas verhaltener reagiert Max Gehl: „Wir haben zuletzt gut verkauft. Aber ich habe etwas Sorge, dass wir aufgrund der Lieferschwierigkeiten der Hersteller bald kaum noch Ware haben. Dann nehme ich auch nichts mehr ein.“Mit großen Gewinnen rechne er nicht. Eine schwarze Null am Ende des Jahres würde ihn freuen.
Sorge, dass der Boom sich im nächsten Jahr in eine deutliche Kaufzurückhaltung verwandelt, weil der Markt gesättigt ist, haben die Händler nicht. „Irgendjemand braucht immer ein neues Rad“, ist sich Stiebling sicher. Und auch der Werkstattservice werde ja weiter genutzt. Die Händler treibt vielmehr die Sorge um, dass die Hersteller mit der Produktion auch künftig in Rückstand geraten könnten, bestellte Modelle nicht liefern und so der Kunde manches Rad nicht kaufen kann.
Sprichwörtlich den Teufel an die Wand malen wollen die Händler aber dennoch nicht: Noch seien Räder in den Beständen, die einen neuen Besitzer suchen. Alles Weitere werde sich zeigen.