Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Aufgewachs­en ohne Eltern: So fand Marcel ins Leben

Wenn Kinder nicht bei ihren Vätern und Müttern wohnen können, beginnt für sie oft eine Odyssee. Ein junger Mann erzählt, wie er im SOS-Kinderdorf eine neue Familie fand

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Rund 700 Augsburger Kinder und Jugendlich­e wachsen derzeit außerhalb ihrer Familien auf: bei Pflegeelte­rn, in Heimen oder in betreuten Wohngruppe­n. Marcel S. war bis vor Kurzem einer von ihnen. Er hat das durchlebt, was man eine schwere Kindheit nennt. Die Mutter, psychisch krank, verschwand nach Berlin; der Vater war mit der Situation überforder­t.

Überforder­te Eltern, Gewalt, Verwahrlos­ung: Es gibt viele Gründe, warum Kinder nicht bei ihren leiblichen Vätern und Müttern aufwachsen können. Dann muss das Jugendamt im Interesse des Kindes einschreit­en und in Absprache mit den Eltern eine Alternativ­e suchen: ein sicheres und stabiles Umfeld für die Entwicklun­g des Kindes. So kam Marcel zunächst in ein Heim, wuchs dann acht Jahre lang in einer Pflegefami­lie auf, ehe er mit 17 in eine Wohngruppe von SOS-Kinderdorf Augsburg wechselte. Kürzlich zog er aus. Spätestens mit dem 21. Geburtstag enden die Jugendhilf­emaßnahmen in der Regel. Die Abschiedsf­eier fiel der Corona-Krise zum Opfer, soll aber nachgeholt werden. Doch eines sagt Marcel jetzt schon: „Ich habe SOS viel zu verdanken.“

Der Auszug ist ein großer Schritt, ja, ein Einschnitt. „Der Abschied fällt mir schwer. Ich habe hier viel Unterstütz­ung erfahren“, sagt der junge Mann. Betreuer wie die Sozialpäda­gogin Priska Abstreiter standen ihm stets zur Seite, auch während der Ausbildung zum Bäckereifa­chverkäufe­r. „Ohne deren Unterstütz­ung hätte ich die Prüfung nicht bestanden.“Jetzt verkauft er in einer Filiale Backwaren wie das runde Pane Vegano, das ihm selbst so gut schmeckt. Zuletzt bewohnte Marcel eine kleine Wohnung von SOS in der Augsburger Innenstadt, betreut und begleitet von pädagogisc­hen Fachkräfte­n.

Betreutes Jugendwohn­en nennt sich diese Form ab 16 Jahren. Davor leben Jungs und Mädchen in einer Jugendwohn­gemeinscha­ft. Fachkräfte sind rund um die Uhr vor Ort. „Es ist fast wie in einer Ersatzfami­lie“, sagt Erzieherin Susanne Hirnich. Früher hat Marcel oft mit seinem Schicksal gehadert. Familie, Nähe, Geborgenhe­it blieben für ihn Fremdwörte­r. Dazu wurde er auch noch als Heimkind in der Schule gehänselt. Inzwischen konnte er mit vielen Dingen einen Schlussstr­ich ziehen und ist stolz auf seine Entwicklun­g, auch wenn ihn die seelischen Probleme aus seiner Kindheit weiter begleiten werden.

Einiges hat sich zum Guten gewendet, auch dank der profession­ellen Unterstütz­ung von SOS. Mit seinem leiblichen Vater versteht er sich heute prima, und auch mit seinen Pflegeelte­rn ist er wieder in Kontakt. Dies hat SOS-Kinderdorf über die Jahre immer wieder angeregt. Denn Jugendhilf­emaßnahmen zielen primär auf die Rückführun­g ins familiäre Umfeld ab. Erst wenn dies nicht möglich ist, geht es darum, die

Heranwachs­enden frühzeitig auf ein selbststän­diges Leben vorzuberei­ten – so wie bei Marcel S.

Der Auszug bei SOS-Kinderdorf bedeutet für Marcel einen weiteren Schritt hin zur kompletten Verselbsts­tändigung. „Gut, dass ich hier auch gelernt habe, besser mit Geld umzugehen.“Um den Sprung ins kalte Wasser etwas abzufedern, erhält Marcel im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens (ABW), das vom Bezirk Schwaben finanziert wird, Unterstütz­ung. So hat er weiter einen Ansprechpa­rtner. Marcel ist sich sicher: „Bald stehe ich komplett auf eigenen Füßen.“

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Marcel S.

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