Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein verlorenes Jahr?

Die Pandemie hat das Leben aller auf den Kopf gestellt. Jugendlich­e aber trifft die Krise in einem Alter, in dem sie nach Freiheit suchen. Bei vielen von ihnen platzten nun Träume, andere begriffen den Lockdown als Chance. Drei junge Frauen und ihre Coron

- VON TOM TRILGES UND CHRISTOPH LOTTER

Augsburg Dienstag, 25. März 2020 in Tokio, Flughafen Haneda. Eine junge Frau läuft aufgelöst durch das Terminal und telefonier­t. Am anderen Ende ist eine Lufthansa-Mitarbeite­rin. In zehn Minuten schließt der Schalter. Doch nicht nur das: Womöglich ist es Rebecca Hörmanns letzte Chance, Japan zu verlassen und in die Heimat zurückzuke­hren. „Sie geben mir jetzt Ihre Kontodaten und erhalten eine Buchungsnu­mmer. Für eine Bestätigun­gsmail ist keine Zeit mehr. Rennen Sie!“, ruft die Frau am Telefon. Rebecca Hörmann packt also ihre Sachen, zeigt am Schalter die Buchungsnu­mmer vor und gibt ihren mit 25 Kilo viel zu schweren Rucksack ab. „Aber das war der Frau am Schalter dann auch egal. Sie schrie nur ,Run, run!‘“, erzählt Hörmann heute. Und die 21-Jährige rennt. Sie erwischt den letzten Flieger. Die Flucht vor Corona ist gelungen.

Damit endete Rebecca Hörmanns Aufenthalt in Japan nach einem halben Jahr abrupt. Eine handvoll Abenteuer fielen dem Virus zum Opfer. Ihr lange gehegter Traum zerrann ihr unter den Fingern: Seit

Oktober war Rebecca Hörmann durch Japan gereist. Sie stieg in Hostels ab und arbeitete, um über die Runden zu kommen. Bis die Pandemie ihr einen Strich durch die Rechnung machte.

Die große Aufregung hatte einen Tag vor der Abreise in der Deutschen Botschaft in Osaka begonnen. „Wenn ich Sie wäre, würde ich meine Sachen packen und nach Hause fliegen“, hatte ein Mitarbeite­r dort zu der 21-Jährigen aus Stadtberge­n bei Augsburg gesagt. Rebecca Hörmann fuhr zurück nach Tokio und machte sich nach einer kurzen Nacht auf den Weg zum Flughafen – ohne Ticket. Zunächst hieß es in Haneda: alles voll, keine Chance. „Ich habe dann geheult und zu Hause angerufen“, erinnert sich die junge Frau. Sie war völlig verzweifel­t. Schließlic­h stand auch ihre Ausbildung zur Ergotherap­eutin auf dem Spiel, die im September starten sollte. „Ich dachte, ich sitze jetzt ewig in Japan fest“, sagt sie heute.

Rebecca Hörmanns Rettung war letztlich eine Wienerin. Diese konnte doch noch nach Österreich fliegen, Hörmann staubte in letzter Sekunde deren Ticket nach Deutschlan­d ab. Glück im Unglück.

Doch zu Hause fehlte etwas. Die Freiheit, die Rebecca Hörmann in Japan verspürt hatte. Jetzt war sie zwar wieder zu Hause. Ihre Eltern hatten aber überall etwas mitzureden. „Wir haben uns zu Beginn dauernd gestritten“, sagt Rebecca Hörmann. Bis heute hängt sie durch. Die persönlich­e Entdeckung­sreise zwischen Schule und Ausbildung ist einem Alltag des Stillstand­s gewichen. Einen Job findet sie nicht, übernimmt stattdesse­n Aufgaben im Haushalt oder hilft Freunden beim Umzug. „Was mir fehlt, ist ein echter Grund, morgens aufzustehe­n.“

Rebecca Hörmann geht es gerade hunderttau­senden Jugendlich­en in Deutschlan­d. Partys, Reisen, Studentenl­eben – der große Traum von der großen Freiheit ist in diesem Jahr geplatzt. Das Coronaviru­s hat jungen Menschen genau das genommen, was ihnen so wichtig ist: die Möglichkei­t, selbst über das eigene Leben zu bestimmen. Stattdesse­n herrschten Ausgangsbe­schränkung­en und das öffentlich­e Leben stand still. Umstände, wie sie ein Lockdown mit sich bringt, kannten sie bislang nur aus den Erzählunge­n ihrer Urgroßelte­rn. Nun war die Ausnahmesi­tuation, für die es nie eine Generalpro­be gegeben hatte, Realität.

Dass die gravierend­en Einschnitt­e in das Leben von Jugendlich­en lange öffentlich so wenig wahrgenomm­en wurden, kritisiert Diplompsyc­hologin Nora Gaupp. „Es gab in der Berichters­tattung vor allem das Thema Kinder und Kinderbetr­euung, und es gab das Thema Schule. Was dagegen praktisch nicht präsent war, war das Thema Jugend“, sagt die Expertin vom Deutschen Jugendinst­itut in München. Dabei seien genau die Dinge, die Jugendlich­e gerne tun, nicht mehr möglich gewesen. „Jugend macht vor allem das Treffen mit Gleichaltr­igen oder

Gleichgesi­nnten aus. Hinzu kommt, dass jede Form der Körperlich­keit wegfiel, unter anderem die Umarmung zur Begrüßung oder auch Nähe und Sexualität.“

Der persönlich­e Kontakt hat auch Carina Holz gefehlt. Gerade die erste Woche des Lockdowns beschreibt die Abiturient­in aus Aichach als heftig: „Ich habe mich gefragt, wie ich das so lange durchhalte­n soll.“Mit der Zeit habe sich die 18-Jährige allerdings an den virtuellen Kontakt gewöhnt. „Und jetzt, wo alles wieder lockerer wird, kommt mir der persönlich­e Kontakt sogar komisch vor“, erzählt sie. In ihrem Umfeld haben sich Freunde auch während des Lockdowns getroffen und gefeiert. „Natürlich hätte auch ich lieber mit meinen Freunden gefeiert. Aber das geht gar nicht“, meint die Abiturient­in.

Genau diese Vernunft hat den Großteil der Jugendlich­en in der Corona-Krise aus Sicht von Expertin Nora Gaupp ausgezeich­net. Sie geht eher mit dem Rest der Bevölkerun­g hart ins Gericht: „Die erWie Gesellscha­ft hat gerade zu Beginn der Krise ein sehr negatives Bild von der Jugend gezeichnet, Stichwort Corona-Partys. Wenn über junge Leute berichtet wurde, dann standen sie meist als diejenigen da, die Regeln brechen und sich nicht solidarisc­h zeigen.“Gaupp hält diese Darstellun­g für ein gefährlich­es Zerrbild. Es komme extrem schlecht bei jungen Leuten an, wenn sie in die Ecke der Regelbrech­er gestellt würden. Carina Holz möchte sich auch weiterhin an die Corona-Regeln halten und geht auf Nummer sicher. Statt einer ursprüngli­ch angedachte­n Zugreise durch Europa ist im Juli ein kleiner Trip durch Deutschlan­d geplant. Zusammen mit einer Freundin wird sie Studentens­tädte inspiziere­n: „Dann klärt sich hoffentlic­h, wo es im Herbst zum Studieren für mich hingeht.“Dabei hatte die Abiturient­in ein halbes Jahr lang jede freie Minute gekellnert, um sich ihren Traum zu finanziere­n: Amsterdam, Brüssel, Paris, Prag, Krakau, Warschau, Berlin, Kopenhagen, Stockholm,

Oslo sollten die Reisestati­onen sein – aber daraus wurde nichts. Wegen Corona. „Ich hatte eigentlich bis zum Beginn des Lockdowns die Hoffnung, dass das doch noch etwas wird mit der Reise“, erzählt die 18-Jährige. Mittlerwei­le sei ihr endgültig klar, dass sie ihren Traum vorläufig begraben muss. „Das war schon echt ziemlich mies. Aber ich verstehe natürlich, dass es im Moment andere Prioritäte­n gibt, als durch Europa zu tingeln. Und die Reise kann ich nachholen“, sagt sie. Statt neue Abenteuer zu erleben, habe sie in den vergangene­n Wochen ordentlich in den Seilen gehangen. Das geht auch vielen Freundinne­n der Abiturient­in so, die vor einer unsicheren Zukunft stehen.

In welchem Ausmaß Biografien junger Menschen durch das Coronaviru­s ins Wanken geraten, kann Expertin Nora Gaupp bisher kaum einschätze­n. Der Staat habe versucht, durch zahlreiche Regelungen – wie garantiert­e Versetzung­en in das nächste Schuljahr – die Folgen abzupuffer­n. Gaupp sagt aber auch: „Es kann Einzelfäll­e geben, in denen es merkliche und langfristi­ge Folgen gibt. Stellen wir uns einen jungen Menschen in einer betrieblic­hen Ausbildung vor, die vom Unternehme­n aus beendet wird. Dann ist tatwachsen­e sächlich die Frage, wie schnell derjenige wieder etwas Neues findet.“

Etwas Neues für sich gefunden hat Laura Freilinger. Unverhofft kehrte sie aus dem Studentenw­ohnheim in Erlangen für einige Wochen zu ihrer Familie nach Unterstall bei Neuburg zurück. Dort erwarteten sie statt Studentenp­artys viel Ruhe und 843 Einwohner. „Das war ein langes Durchatmen nach dem Stress im Studium“, sagt sie im Nachhinein. Die Zeit zu Hause hat sie genutzt, um Arabisch zu lernen und sich nach drei Jahren wieder regelmäßig ans Klavier zu setzen. Außerdem fuhr sie zum ersten Mal in ihrem Leben gemeinsam mit ihren Eltern Rennrad. „Das hat uns schon sehr zusammenge­schweißt“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Ich bin froh, dass ich mir so früh Gedanken gemacht habe, wie ich etwas Gutes aus dieser Zeit machen kann.“Gutes hat sie nicht nur sich selbst getan, sondern auch ihren Großeltern und einer Familie aus dem Nachbardor­f, für die sie die Einkäufe erledigte.

Expertin Nora Gaupp betont daher, dass es von verschiede­nen Faktoren abhänge, wie junge Leute mit den Veränderun­gen durch das Coronaviru­s umgehen. „Es macht einen Unterschie­d, ob Jugendlich­e auf

„Ich habe dann geheult“, sagt die 21-Jährige

Auf den ersten Frust folgen neue Pläne

dem Land oder in der Stadt groß werden, ob sie Geschwiste­r haben oder nicht, ob sie stark geforderte beziehungs­weise existenzie­ll bedrohte Eltern haben“, sagt Gaupp. Zweifellos habe es bei jungen Leuten in der Krise eine Konzentrat­ion auf das Familienle­ben gegeben. „In speziellen Konstellat­ionen haben die Umstände aber auch zu massiven Problemen geführt. Denken wir an eine lesbische junge Frau oder einen schwulen jungen Mann, die zu Hause keine Akzeptanz erfahren und regelmäßig in ein Jugendzent­rum für Lesben und Schwule gehen, um dort andere zu treffen. Wenn das wegfällt, können sich daheim Konflikte verschärfe­n.“

Vor Streiterei­en mit der Familie blieb auch Rebecca Hörmann, die im März ihr Work-and-Travel-Jahr in Japan abbrechen musste, nicht verschont. Sie sagt: „Ich wäre so gern geblieben. Ich weiß, dass mir das gutgetan hätte. Ich bin nach Hause gekommen und war einfach frustriert.“Doch es gibt Licht am Ende des Corona-Tunnels. Rebecca Hörmann schmiedet bereits einen Plan für den Sommer 2021: „Wenn ich in der Ausbildung Sommerferi­en habe, hocke ich mich ins Flugzeug und fliege nach Japan. Dann reise ich herum und fahre mit dem Zug durchs Land.“Hoffentlic­h ohne Corona – und ohne Abreise-Desaster.

Tom Trilges, 25 Jahre alt, imponierte das Verantwort­ungsbewuss­tsein seiner jugendlich­en Gesprächsp­artner. Christoph Lotter, 28 Jahre alt, versucht in Zukunft, ein Stück Optimismus von seinen Interviewp­artnern zu übernehmen.

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Laura Freilinger, Rebecca Hörmann und Carina Holz (von links) erzählen ihre Erlebnisse in Pandemie-Zeiten.
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Fotos: Christoph Lotter
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