Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Coronakratie
Krise Die Pandemie verändert gerade auch die Bürokratie. So beschleunigt sie Abläufe im Verwaltungsapparat, dem ja nicht allzu viel Flexibilität nachgesagt wird. Wie man in den Ministerien mit der geringen Halbwertszeit von Beschlüssen umgeht und warum Ru
Büro an Büro. Schreibtische, Drehstühle, taxigelbe Dokumentenmappen. Das Haus in der Münchner Jungfernturmstraße ist ein gewaltiger Beamtenapparat, eine Maschine, die jeden Tag funktionieren muss. Es geht hier, in diesem Dienstgebäude des bayerischen Kultusministeriums, um Lehrpläne und Abschlussprüfungen, um Bildungsstudien und Versetzungsanträge von Lehrern. Doch all das wird seit Monaten von einem anderen Thema überschattet. Von der Corona-Krise.
Durch die Glasfenster im vierten Stock des Hauses fällt ein mattes Frühlingslicht. In Zimmer 4.09 sitzt Elfriede Ohrnberger, stellvertretende Amtschefin und Leiterin der Grundsatzabteilung, an einem großen Besprechungstisch. Durch die Scheiben hinter ihr blickt man auf die Dächer der Münchner Innenstadt. Ohrnberger faltet die Hände vor sich auf dem Tisch, lehnt sich zurück und sagt: „Corona bestimmt unseren Tagesablauf und nimmt einen Großteil der Arbeit in Anspruch.“
So viele Besprechungen wie in den vergangenen Wochen hatte sie noch nie, sagt Ohrnberger. Und weil sich ständig alles ändern könne, müsse man es schon aushalten können, dass man an etwas arbeite und abends nach Dienstschluss die Situation schon eine völlig andere sei. Viele andere Dinge, mit denen sich das Ministerium außerdem beschäftigen muss, könnten – auch aus Infektionsschutzgründen – nicht alle mit der gleichen Intensität betrieben werden. Sie köcheln derweil auf Sparflamme.
So geht es derzeit einigen Ministerien im Freistaat. Wenn man so will, dann wurde aus der Bürokratie eine „Coronakratie“– einer dieser Neologismen, die uns diese Krise gelehrt hat. Und ein Wort, das deutlich macht: Dieses Virus hat das Ruder – fast möchte man sagen: die Macht – übernommen. Die Verwaltungen im ganzen Land müssen vor allem reagieren: auf die Auswirkungen der Pandemie, auf das, was die Kanzlerin in Berlin mit den Ministerpräsidenten bespricht, und darauf, was die Ressortchefs in Bayern vorgeben. Es ist schließlich die Aufgabe der Verwaltung – und das sind die einzelnen Ministerien –, die Politik zu beraten und Entscheidungsgrundlagen vorzubereiten.
Nur: In Zeiten, in denen die Halbwertszeit von Beschlüssen mitunter sehr kurz ist, in denen sich das Infektionsgeschehen schnell ändern kann und neue Maßnahmen nötig sind, muss das eben extrem schnell gehen.
Diese Krise – sie beschäftigt alle. Seit Monaten. Sie beschäftigt die Kanzlerin in Berlin und Bürgermeisteramtsstuben auf dem Land. Sie beschäftigt die Ministerien in München und die Landratsämter in der Provinz. Und sie beschäftigt die Menschen, die die Auswirkungen dessen, was in den Verwaltungen vorbereitet und in den Kabinetten beschlossen wird, hautnah spüren: Eltern, die lange nicht wussten, wann ihre Kinder wieder in die Schule oder die Krippe gehen können; Sportler, die Wochen darauf gewartet haben, im Fitnessstudio trainieren zu dürfen; Stammtischbrüder und -schwestern, die sehnsüchtig darauf hofften, wieder gemeinsam im Wirtshaus zu sitzen.
Und sie alle eint: Nicht immer ist man mit dem, was da in den Ministerien ausgetüftelt wird, zufrieden. Die in München, so heißt es oft, seien zu weit weg. Von den Menschen, ihren Sorgen und Nöten.
Wie also funktioniert dieser
Beamtenapparat, dem gemeinhin nicht allzu viel Flexibilität nachgesagt wird, in derart unsteten Zeiten? Welchen Weg gehen die Informationen, auf welchen Schreibtischen liegen die Akten, wer stimmt darüber ab und wie wird aus der Theorie eigentlich Praxis?
Elfriede Ohrnberger, eine Augsburgerin, macht den Job seit vielen Jahren. So etwas wie jetzt habe sie allerdings noch nie erlebt, erzählt sie, während ein warmes Sommerlicht den Raum erhellt, so, als hätte jemand den Lichtschalter gedrückt. Das Tempo, sagt Ohrnberger, sei ein anderes geworden. „Wir müssen anpassungsfähig sein. Im Endeffekt hängt alles vom Infektionsgeschehen ab.“Die Fristen seien schon immer sportlich gewesen. „Aber sie sind in den vergangenen Wochen noch deutlich sportlicher geworden.“48 Stunden für eine Kabinettsvorlage, das sei manchmal schon großzügig, sagt die Ministerialdirigentin, die die Umsetzung vieler Corona-Maßnahmen im bayerischen Schulministerium orchestriert. Und derzeit ist das – um im Bild zu bleiben – alles andere als ein gemächlicher Walzer.
Beispiel: die stufenweise Wiederöffnung der Schulen. Vier Schulabteilungen waren in die Erstellung des Konzeptes involviert, außerdem die Abteilung für Haushalt und Recht. „Ganz viele Menschen sind damit beschäftigt, machen sich Gedanken, tauschen sich aus, sprechen sich mit anderen Ministerien, etwa dem Gesundheitsministerium, ab. „Und einer muss den Hut aufhaben und alles einsammeln“, sagt Ohrnberger. Wenn der Kultusminister mit dem Ergebnis einverstanden ist, geht das Konzept an die Staatskanzlei, die direkt den Ministerpräsidenten und die Staatsregierung unterstützt. Im Kabinett wird dann über das Thema beraten. „Wann die Entscheidungen des Kultusministeriums offiziell nach außen getragen werden können, kriegen wir am schnellsten mit, wenn wir die Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung verfolgen“, sagt Ohrnberger. „Und dann können wir das, was wir vorbereitet haben – wenn es denn auch so beschlossen wurde –, an die Schulen schicken.“
Und genau hier liegt das Problem. Vor dem Kabinettsbeschluss kann das Ministerium den Schulen noch nichts mitteilen, schließlich gibt es noch keine Entscheidung – die Schulen erfahren das meiste also aus der Presse.
Das Kultusministerium sei damit, was die Informationsübermittlung angeht, eigentlich immer nur zweiter Sieger, sagt Ohrnberger. Hinzu komme, dass es in der Öffentlichkeit eine gewisse Erwartungshaltung gebe, dass das, was der Ministerpräsident verkündet, auch schnell umgesetzt wird. Sie könne verstehen, sagt Ohrnberger, dass viele Schulen sich deswegen unter Zeitdruck sähen. „Wir wissen, dass das für die Schulen mitunter schwierig ist.“Eine Blaupause, sagt Ohrnberger, gebe es aber nun mal nicht. Keine Vorgabe, die festzurrt, was genau zu tun ist.
Trotz der Widrigkeiten ist Elfriede Ohrnberger zufrieden. „Es wird ja gerne mal auf die Verwaltung geschimpft, aber ich glaube, dass wir das alles sehr gut hinbekommen haben. Wir haben viel gelernt, sollte es irgendwann einmal wieder so eine Situation geben, dann wird es leichter.“
Eine Blaupause – die gab es auch nicht für das bayerische Familienministerium. Dass Krippen und Kindergärten so lange geschlossen waren, das gab es bisher noch nie. Im ersten Schritt durften nur die Kinder nicht in die Einrichtungen gehen, die aus einem Risikogebiet zurückgekommen waren oder Erkältungssymptome hatten. Dann der Lockdown.
„Wir haben immer mehr Meldungen von Corona-Verdachtsfällen in den Kitas bekommen“, sagt Philipp Späth, der im Ministerium die Abteilung Familienpolitik leitet. Insgesamt seien 130 bis 150 Kitas betroffen gewesen – entweder durch bestätigte Corona-Infektionen oder Verdachtsfälle. Um die Schließung der Einrichtungen in Rechtsform zu gießen, habe man in der Verwaltung nicht lange Zeit gabt – gerade einmal anderthalb Tage. Die Empfehlung, die Kitas zu schließen, sei vom Gesundheitsministerium gekommen. Die Umsetzung oblag dann dem Familienministerium. Das normale Alltagsgeschäft habe während der vergangenen Wochen wenig stattgefunden, sagt Späth. „Wir haben uns fast ausschließlich um Corona gekümmert.“
Wie schnell sich derzeit Dinge ändern können, das zeigt auch ein Fall aus Augsburg. Ein RestaurantBetreiber kämpfte vor Gericht für längere Biergarten-Öffnungszeiten. Mit Erfolg. In Augsburg durften deshalb alle Biergärten schon früher als geplant länger öffnen – und nach der Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts zog die Staatsregierung nach. Heißt: Im ganzen Land musste quasi über Nacht eine Regelung umgesetzt werden, die eigentlich erst mehrere Tage später hätte anlaufen sollen.
Dass so etwas überhaupt möglich ist, dass die Gerichte nach wie vor ihre Arbeit machen können, dafür hat sich das bayerische Justizministerium in den vergangenen Wochen eingesetzt. „Die Funktionsfähigkeit der Justiz muss aufrechterhalten werden. Es müssen weiterhin Verhandlungen stattfinden“, sagt Frank Arloth, der Amtschef des Justizministeriums. „Und dafür mussten wir Rahmenbedingungen schaffen.“
Es ging im Justizministerium allerdings längst nicht nur um die Gerichte, sondern vor allem auch um die Gefängnisse. Denn die Angst, dass sich das Virus dort ausbreiten könnte, sei von Anfang an groß gewesen. Rund 12000 Haftplätze gebe es in Bayern, die Fluktuation bei den Gefangenen sei groß. „Wir haben also die Pandemiepläne aktualisiert“, sagt Arloth, der aus Gersthofen im Landkreis Augsburg stammt. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wurde im Rahmen dieses Konzepts in manchen Fällen, etwa bei Ersatzfreiheitsstrafen, vorübergehend ausgesetzt, um die Belegung in den Justizvollzugsanstalten zu reduzieren.
Wenn der Amtschef auf die vergangenen Wochen zurückblickt, ist er erleichtert. „Ich glaube, wir haben viel Glück gehabt. Bei den Gefangenen gab es relativ wenige Infektionsfälle.“Unterm Strich könne man sagen, dass die Sache bislang glimpflich ausgegangen sei.
Dass das Arbeitspensum in der Verwaltung groß ist, das weiß man in der Politik natürlich auch. Kerstin Schreyer, Bayerns Verkehrsministerin, sagt: „Corona hat alle Ministerien vor große Herausforderungen gestellt.“Was ihr Ressort betreffe, sei es ihr wichtig gewesen, dass der öffentliche Nahverkehr weiter funktioniert. „Die Leute mussten ja trotzdem befördert werden.“Trotz des geringeren Fahrgastaufkommens sollten aber keine Züge ausfallen. „Denn es wäre ja schlimm gewesen, wenn die Menschen dann dicht gedrängt in den Bahnen hätten stehen müssen.“
Schreyers Aufgabengebiet erfordert eine gewisse Weitsicht. Denn es dauerte etwa sechs Wochen, den Verkehr wieder komplett hochzufahren – die Entscheidung musste also zu einem Zeitpunkt getroffen werden, an dem eigentlich noch gar nicht absehbar war, wie das Infektionsgeschehen in einigen Wochen aussehen wird.
Die Ministerin weiß, dass es manchmal zu einem politischen Übermut eine Dosis – sagen wir – beamtenhafte Ruhe braucht. „Markus Söder und mich verbindet, dass wir beide sehr dynamisch sind. Die Geduld haben wir nicht erfunden. Es ist deswegen gut, dass wir Beamte haben, die in der Verwaltung ein ausgleichendes Element sind“, sagt Schreyer.
Beamtenhafte Ruhe also. So richtig spürt man sie nicht in diesen Tagen, auch nicht im Dienstgebäude des Kultusministeriums in der Münchner Jungfernturmstraße mitten in der Innenstadt. Wo sich Büro an Büro reiht, mit Schreibtischen, Drehstühlen und taxigelben Dokumentenmappen.
„Corona bestimmt unseren Tagesablauf.“
Elfriede Ohrnberger
„Ich glaube, wir haben viel Glück gehabt.“
Frank Arloth