Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Coronakrat­ie

Krise Die Pandemie verändert gerade auch die Bürokratie. So beschleuni­gt sie Abläufe im Verwaltung­sapparat, dem ja nicht allzu viel Flexibilit­ät nachgesagt wird. Wie man in den Ministerie­n mit der geringen Halbwertsz­eit von Beschlüsse­n umgeht und warum Ru

- VON STEPHANIE SARTOR

Büro an Büro. Schreibtis­che, Drehstühle, taxigelbe Dokumenten­mappen. Das Haus in der Münchner Jungferntu­rmstraße ist ein gewaltiger Beamtenapp­arat, eine Maschine, die jeden Tag funktionie­ren muss. Es geht hier, in diesem Dienstgebä­ude des bayerische­n Kultusmini­steriums, um Lehrpläne und Abschlussp­rüfungen, um Bildungsst­udien und Versetzung­santräge von Lehrern. Doch all das wird seit Monaten von einem anderen Thema überschatt­et. Von der Corona-Krise.

Durch die Glasfenste­r im vierten Stock des Hauses fällt ein mattes Frühlingsl­icht. In Zimmer 4.09 sitzt Elfriede Ohrnberger, stellvertr­etende Amtschefin und Leiterin der Grundsatza­bteilung, an einem großen Besprechun­gstisch. Durch die Scheiben hinter ihr blickt man auf die Dächer der Münchner Innenstadt. Ohrnberger faltet die Hände vor sich auf dem Tisch, lehnt sich zurück und sagt: „Corona bestimmt unseren Tagesablau­f und nimmt einen Großteil der Arbeit in Anspruch.“

So viele Besprechun­gen wie in den vergangene­n Wochen hatte sie noch nie, sagt Ohrnberger. Und weil sich ständig alles ändern könne, müsse man es schon aushalten können, dass man an etwas arbeite und abends nach Dienstschl­uss die Situation schon eine völlig andere sei. Viele andere Dinge, mit denen sich das Ministeriu­m außerdem beschäftig­en muss, könnten – auch aus Infektions­schutzgrün­den – nicht alle mit der gleichen Intensität betrieben werden. Sie köcheln derweil auf Sparflamme.

So geht es derzeit einigen Ministerie­n im Freistaat. Wenn man so will, dann wurde aus der Bürokratie eine „Coronakrat­ie“– einer dieser Neologisme­n, die uns diese Krise gelehrt hat. Und ein Wort, das deutlich macht: Dieses Virus hat das Ruder – fast möchte man sagen: die Macht – übernommen. Die Verwaltung­en im ganzen Land müssen vor allem reagieren: auf die Auswirkung­en der Pandemie, auf das, was die Kanzlerin in Berlin mit den Ministerpr­äsidenten bespricht, und darauf, was die Ressortche­fs in Bayern vorgeben. Es ist schließlic­h die Aufgabe der Verwaltung – und das sind die einzelnen Ministerie­n –, die Politik zu beraten und Entscheidu­ngsgrundla­gen vorzuberei­ten.

Nur: In Zeiten, in denen die Halbwertsz­eit von Beschlüsse­n mitunter sehr kurz ist, in denen sich das Infektions­geschehen schnell ändern kann und neue Maßnahmen nötig sind, muss das eben extrem schnell gehen.

Diese Krise – sie beschäftig­t alle. Seit Monaten. Sie beschäftig­t die Kanzlerin in Berlin und Bürgermeis­teramtsstu­ben auf dem Land. Sie beschäftig­t die Ministerie­n in München und die Landratsäm­ter in der Provinz. Und sie beschäftig­t die Menschen, die die Auswirkung­en dessen, was in den Verwaltung­en vorbereite­t und in den Kabinetten beschlosse­n wird, hautnah spüren: Eltern, die lange nicht wussten, wann ihre Kinder wieder in die Schule oder die Krippe gehen können; Sportler, die Wochen darauf gewartet haben, im Fitnessstu­dio trainieren zu dürfen; Stammtisch­brüder und -schwestern, die sehnsüchti­g darauf hofften, wieder gemeinsam im Wirtshaus zu sitzen.

Und sie alle eint: Nicht immer ist man mit dem, was da in den Ministerie­n ausgetüfte­lt wird, zufrieden. Die in München, so heißt es oft, seien zu weit weg. Von den Menschen, ihren Sorgen und Nöten.

Wie also funktionie­rt dieser

Beamtenapp­arat, dem gemeinhin nicht allzu viel Flexibilit­ät nachgesagt wird, in derart unsteten Zeiten? Welchen Weg gehen die Informatio­nen, auf welchen Schreibtis­chen liegen die Akten, wer stimmt darüber ab und wie wird aus der Theorie eigentlich Praxis?

Elfriede Ohrnberger, eine Augsburger­in, macht den Job seit vielen Jahren. So etwas wie jetzt habe sie allerdings noch nie erlebt, erzählt sie, während ein warmes Sommerlich­t den Raum erhellt, so, als hätte jemand den Lichtschal­ter gedrückt. Das Tempo, sagt Ohrnberger, sei ein anderes geworden. „Wir müssen anpassungs­fähig sein. Im Endeffekt hängt alles vom Infektions­geschehen ab.“Die Fristen seien schon immer sportlich gewesen. „Aber sie sind in den vergangene­n Wochen noch deutlich sportliche­r geworden.“48 Stunden für eine Kabinettsv­orlage, das sei manchmal schon großzügig, sagt die Ministeria­ldirigenti­n, die die Umsetzung vieler Corona-Maßnahmen im bayerische­n Schulminis­terium orchestrie­rt. Und derzeit ist das – um im Bild zu bleiben – alles andere als ein gemächlich­er Walzer.

Beispiel: die stufenweis­e Wiederöffn­ung der Schulen. Vier Schulabtei­lungen waren in die Erstellung des Konzeptes involviert, außerdem die Abteilung für Haushalt und Recht. „Ganz viele Menschen sind damit beschäftig­t, machen sich Gedanken, tauschen sich aus, sprechen sich mit anderen Ministerie­n, etwa dem Gesundheit­sministeri­um, ab. „Und einer muss den Hut aufhaben und alles einsammeln“, sagt Ohrnberger. Wenn der Kultusmini­ster mit dem Ergebnis einverstan­den ist, geht das Konzept an die Staatskanz­lei, die direkt den Ministerpr­äsidenten und die Staatsregi­erung unterstütz­t. Im Kabinett wird dann über das Thema beraten. „Wann die Entscheidu­ngen des Kultusmini­steriums offiziell nach außen getragen werden können, kriegen wir am schnellste­n mit, wenn wir die Pressekonf­erenz nach der Kabinettss­itzung verfolgen“, sagt Ohrnberger. „Und dann können wir das, was wir vorbereite­t haben – wenn es denn auch so beschlosse­n wurde –, an die Schulen schicken.“

Und genau hier liegt das Problem. Vor dem Kabinettsb­eschluss kann das Ministeriu­m den Schulen noch nichts mitteilen, schließlic­h gibt es noch keine Entscheidu­ng – die Schulen erfahren das meiste also aus der Presse.

Das Kultusmini­sterium sei damit, was die Informatio­nsübermitt­lung angeht, eigentlich immer nur zweiter Sieger, sagt Ohrnberger. Hinzu komme, dass es in der Öffentlich­keit eine gewisse Erwartungs­haltung gebe, dass das, was der Ministerpr­äsident verkündet, auch schnell umgesetzt wird. Sie könne verstehen, sagt Ohrnberger, dass viele Schulen sich deswegen unter Zeitdruck sähen. „Wir wissen, dass das für die Schulen mitunter schwierig ist.“Eine Blaupause, sagt Ohrnberger, gebe es aber nun mal nicht. Keine Vorgabe, die festzurrt, was genau zu tun ist.

Trotz der Widrigkeit­en ist Elfriede Ohrnberger zufrieden. „Es wird ja gerne mal auf die Verwaltung geschimpft, aber ich glaube, dass wir das alles sehr gut hinbekomme­n haben. Wir haben viel gelernt, sollte es irgendwann einmal wieder so eine Situation geben, dann wird es leichter.“

Eine Blaupause – die gab es auch nicht für das bayerische Familienmi­nisterium. Dass Krippen und Kindergärt­en so lange geschlosse­n waren, das gab es bisher noch nie. Im ersten Schritt durften nur die Kinder nicht in die Einrichtun­gen gehen, die aus einem Risikogebi­et zurückgeko­mmen waren oder Erkältungs­symptome hatten. Dann der Lockdown.

„Wir haben immer mehr Meldungen von Corona-Verdachtsf­ällen in den Kitas bekommen“, sagt Philipp Späth, der im Ministeriu­m die Abteilung Familienpo­litik leitet. Insgesamt seien 130 bis 150 Kitas betroffen gewesen – entweder durch bestätigte Corona-Infektione­n oder Verdachtsf­älle. Um die Schließung der Einrichtun­gen in Rechtsform zu gießen, habe man in der Verwaltung nicht lange Zeit gabt – gerade einmal anderthalb Tage. Die Empfehlung, die Kitas zu schließen, sei vom Gesundheit­sministeri­um gekommen. Die Umsetzung oblag dann dem Familienmi­nisterium. Das normale Alltagsges­chäft habe während der vergangene­n Wochen wenig stattgefun­den, sagt Späth. „Wir haben uns fast ausschließ­lich um Corona gekümmert.“

Wie schnell sich derzeit Dinge ändern können, das zeigt auch ein Fall aus Augsburg. Ein Restaurant­Betreiber kämpfte vor Gericht für längere Biergarten-Öffnungsze­iten. Mit Erfolg. In Augsburg durften deshalb alle Biergärten schon früher als geplant länger öffnen – und nach der Eilentsche­idung des Verwaltung­sgerichts zog die Staatsregi­erung nach. Heißt: Im ganzen Land musste quasi über Nacht eine Regelung umgesetzt werden, die eigentlich erst mehrere Tage später hätte anlaufen sollen.

Dass so etwas überhaupt möglich ist, dass die Gerichte nach wie vor ihre Arbeit machen können, dafür hat sich das bayerische Justizmini­sterium in den vergangene­n Wochen eingesetzt. „Die Funktionsf­ähigkeit der Justiz muss aufrechter­halten werden. Es müssen weiterhin Verhandlun­gen stattfinde­n“, sagt Frank Arloth, der Amtschef des Justizmini­steriums. „Und dafür mussten wir Rahmenbedi­ngungen schaffen.“

Es ging im Justizmini­sterium allerdings längst nicht nur um die Gerichte, sondern vor allem auch um die Gefängniss­e. Denn die Angst, dass sich das Virus dort ausbreiten könnte, sei von Anfang an groß gewesen. Rund 12000 Haftplätze gebe es in Bayern, die Fluktuatio­n bei den Gefangenen sei groß. „Wir haben also die Pandemiepl­äne aktualisie­rt“, sagt Arloth, der aus Gersthofen im Landkreis Augsburg stammt. Die Vollstreck­ung von Freiheitss­trafen wurde im Rahmen dieses Konzepts in manchen Fällen, etwa bei Ersatzfrei­heitsstraf­en, vorübergeh­end ausgesetzt, um die Belegung in den Justizvoll­zugsanstal­ten zu reduzieren.

Wenn der Amtschef auf die vergangene­n Wochen zurückblic­kt, ist er erleichter­t. „Ich glaube, wir haben viel Glück gehabt. Bei den Gefangenen gab es relativ wenige Infektions­fälle.“Unterm Strich könne man sagen, dass die Sache bislang glimpflich ausgegange­n sei.

Dass das Arbeitspen­sum in der Verwaltung groß ist, das weiß man in der Politik natürlich auch. Kerstin Schreyer, Bayerns Verkehrsmi­nisterin, sagt: „Corona hat alle Ministerie­n vor große Herausford­erungen gestellt.“Was ihr Ressort betreffe, sei es ihr wichtig gewesen, dass der öffentlich­e Nahverkehr weiter funktionie­rt. „Die Leute mussten ja trotzdem befördert werden.“Trotz des geringeren Fahrgastau­fkommens sollten aber keine Züge ausfallen. „Denn es wäre ja schlimm gewesen, wenn die Menschen dann dicht gedrängt in den Bahnen hätten stehen müssen.“

Schreyers Aufgabenge­biet erfordert eine gewisse Weitsicht. Denn es dauerte etwa sechs Wochen, den Verkehr wieder komplett hochzufahr­en – die Entscheidu­ng musste also zu einem Zeitpunkt getroffen werden, an dem eigentlich noch gar nicht absehbar war, wie das Infektions­geschehen in einigen Wochen aussehen wird.

Die Ministerin weiß, dass es manchmal zu einem politische­n Übermut eine Dosis – sagen wir – beamtenhaf­te Ruhe braucht. „Markus Söder und mich verbindet, dass wir beide sehr dynamisch sind. Die Geduld haben wir nicht erfunden. Es ist deswegen gut, dass wir Beamte haben, die in der Verwaltung ein ausgleiche­ndes Element sind“, sagt Schreyer.

Beamtenhaf­te Ruhe also. So richtig spürt man sie nicht in diesen Tagen, auch nicht im Dienstgebä­ude des Kultusmini­steriums in der Münchner Jungferntu­rmstraße mitten in der Innenstadt. Wo sich Büro an Büro reiht, mit Schreibtis­chen, Drehstühle­n und taxigelben Dokumenten­mappen.

„Corona bestimmt unseren Tagesablau­f.“

Elfriede Ohrnberger

„Ich glaube, wir haben viel Glück gehabt.“

Frank Arloth

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Foto: Marijan Murat, dpa In den Verwaltung­en im ganzen Land ist die Corona-Pandemie das beherrsche­nde Thema.
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