Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Es ist wichtig, dass Schulen wieder öffnen“

Familienmi­nisterin Franziska Giffey erklärt, wie die Bundesregi­erung den Familien im Umgang mit den Folgen der Coronaviru­s-Pandemie helfen will. Eine Lehre aus der Krise sollen deutlich einfachere und digitale Leistungen sein

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„Wir sollten die Wirtschaft nicht gegen die Familie stellen.“

Giffey, die Corona-Krise und der Lockdown haben Familien teils extrem belastet. Jetzt zahlt die Bundesregi­erung eine Prämie von 300 Euro je Kind. Da fragen sich viele frustriert­e Eltern, ob es das schon gewesen ist. War’s das wirklich?

Franziska Giffey: Nein, das war es natürlich nicht. Wir haben ja ein ganzes Paket an Maßnahmen für die Familien in Deutschlan­d beschlosse­n. Zum Beispiel die milliarden­schweren Investitio­nen in den Ausbau von Kitas und Ganztagssc­hulplätzen, die Mehrwertst­euersenkun­g und die Verdopplun­g des steuerlich­en Entlastung­sbetrags für Alleinerzi­ehende. Schon am 1. April, ganz kurz nach dem Lockdown, haben wir den Notfallkin­derzuschla­g verfügbar gemacht für Eltern, die Einkommens­einbußen haben. Und diese 300 Euro sind ja auch keine Gegenleist­ung für nicht vorhandene Kinderbetr­euung. Wir sprechen über einen Kinderbonu­s, der die Kaufkraft in den Familien stärken soll, um die Konjunktur kurzfristi­g anzukurbel­n, das ist etwas völlig anderes.

Warum wird der Bonus dann nicht auch für Besserverd­iener gezahlt? Giffey: Erst mal bekommen ihn alle mit dem Kindergeld überwiesen, aber wir haben die Steuerfrei­beträge nicht verändert. Das bedeutet, dass die Bezieher höherer Einkommen nicht doppelt begünstigt werden, das wäre nicht gerecht. Deshalb schmilzt der Kinderbonu­s bei höheren Einkommen stufenweis­e ab. So haben wir von den 18 Millionen Kindern und Jugendlich­en, die das bekommen, etwa drei Millionen, bei denen der Bonus nicht greift. Diese drei Millionen Kinder leben in Familien, die ein überdurchs­chnittlich­es Einkommen haben und die keine zusätzlich­e Stärkung ihrer Kaufkraft brauchen.

Trotz all der Maßnahmen, die Sie schildern, ist für viele Familien der Eindruck entstanden, dass es Rettungssc­hirme für alle möglichen Branchen, Firmen und Gruppen gab, aber nicht für sie. Wer rettet eigentlich die Familien?

Giffey: Wir sollten die Wirtschaft nicht gegen die Familien stellen. Denn: Wer ist denn die Wirtschaft? Da arbeiten Millionen von Vätern und Müttern. Wenn wir Kurzarbeit­ergeld für über zehn Millionen Menschen ermögliche­n, dann müssen unzählige Kinder nicht fürchten, dass ihre Eltern ihre Arbeit verlieren. Das gilt auch für die 25 Milliarden Euro Überbrücku­ngshilfen für die Wirtschaft, gerade für die Branchen, in denen viele Frauen arbeiten. Darüber hinaus haben wir die

Lohnausfal­lzahlungen für Eltern, einfach, Homeschool­ing, Familie die, weil sie ihre Kinder betreuen und Beruf unter einen Hut zu bringen. müssen, nicht arbeiten gehen können, Wir haben das aber ganz gut verlängert. Sie erhalten 67 Prozent geschafft. Bei allen Schwierigk­eiten vom Netto für zehn Wochen und Belastunge­n darf man aber eins pro Elternteil. Und wir haben das nicht aus dem Blick verlieren: Wir in Elterngeld coronafest gemacht, damit Deutschlan­d haben die Krise auch werdende Eltern, die jetzt weniger im internatio­nalen Vergleich gut gemeistert. Einkommen haben, nicht später Zu keinem Zeitpunkt hatten weniger Elterngeld bekommen. All wir eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems. diese Maßnahmen suchen auch internatio­nal Auch das Versorgung­ssystem ihresgleic­hen. Deutschlan­d – Strom, Wasser, Lebensmitt­el, wird es nur weiter gut gehen, Müllabfuhr – das hat alles wenn wir möglichst viele Arbeitsplä­tze funktionie­rt. Gut, es gab anfangs retten. Die Wirtschaft, das nicht ausreichen­d Klopapier, aber sind doch wir alle. das war sehr schnell wieder da. Alle Elterngeld,„deutlichen

Engpässe durch Hamsterkäu­fe sind Welche Lehren sind aus der Pandemie binnen kürzester Zeit behoben worden. für das System der Unterstütz­ung von

Familien zu ziehen? Wie kann es krisenfest­er werden? Neue Studien legen nahe, dass von Giffey: Ein ganz wesentlich­er Punkt Kindern wohl eine geringere CoronaInfe­ktionsgefa­hr ist, dass wir noch digitaler werden ausgeht, als befürchtet. müssen. Wir werden diese Woche im Hinterher ist man zwar immer Kabinett das Digitale-Familienle­istungen-Gesetz schlauer, aber war die schnelle Schließung beschließe­n. Wir von Schulen und Kindergärt­en bündeln damit die wichtigste­n Leistungen vielleicht doch übertriebe­n? bei der Geburt eines Kindes. Giffey: Absolut nicht, ich bin davon In Zukunft werden Eltern mit einem überzeugt, dass das notwendig war. digitalen Antrag die Geburtsurk­unde, Am Anfang hatten wir einen das Anstieg der Infektione­n das Kindergeld und den in Schulen Kinderzusc­hlag beantragen und Kitas. Das sind können. Alle nun mal Großverans­taltungen, notwendige­n Angaben jeden machen sie dabei einzelnen Tag begegnen nur noch ein sich da Hunderte Mal. Spätestens von Menschen, 2022 sollen diese Vorteile Kinder, Eltern, Lehrerinne­n, bundesweit allen Erzieher. Mit Eltern zur Verfügung dem Lockdown sind die stehen. Infektione­n zurückgega­ngen, darum gab es keine Alternativ­e zu dieser Maßnahme. Sie hat dazu geführt, dass wir nicht so viele schwere Krankheits­verläufe und auch nicht so viele Tote zu beklagen hatten.

Digitales-Familienle­istungen-Gesetz? Das klingt ja sehr sperrig. Ihr Ministeriu­m ist sonst für griffige Namen für komplizier­te Regelwerke bekannt, das „Gute-Kita-Gesetz“oder das „Starke-Familien-Gesetz“. Wer denkt sich diese Bezeichnun­gen eigentlich aus? Giffey: Ich finde, das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Für mich ist es immer wichtig, dass man aus dem Gesetzesti­tel lesen kann, worum es geht. Die anderen Namen sind ein Wunsch von mir, das haben wir im Ministeriu­m gemeinsam entwickelt. Wenn mir jemand in Berlin, der mit Politik erstmal überhaupt nichts am Hut hat, sagt, Frau Giffey, ‘wat Sie da machen mit dem Gute-Kita-Gesetz, dit find’ ick in Ordnung’, dann ist das für mich ein Erfolg. Und der Erfolg von Politik hängt maßgeblich davon ab, dass die Menschen verstehen, was wir tun.

Sie haben einen zehnjährig­en Sohn. Wie sind Sie und Ihre Familie durch die erste Phase der Corona-Krise gekommen?

Giffey: Das war auch bei uns nicht

Jetzt steht die Öffnung von Schulen bevor und Kitas kehren in den Regelbetri­eb zurück. Geht das überhaupt so reibungslo­s?

Giffey: Das ist ein klares, gutes Signal und ein großer Schritt hin zu Normalität. Aber das zu organisier­en, ist nicht so einfach. Wenn 100 Prozent der Kinder wieder zu den gewohnten Zeiten in die Einrichtun­g gehen, wird die Abstandsre­gel nicht aufrechtzu­erhalten sein. Dann müssen vor Ort andere Lösungen für Verhaltens­regeln und Hygienesta­ndards gefunden werden. Und die Personalfr­age ist eine ganz entscheide­nde – besonders, wenn im Kollegium viele zu einer Risikogrup­pe gehören. Es braucht Teststrate­gien, um auf ein Infektions­geschehen schnell und unmittelba­r reagieren zu können.

Sie fordern einen Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung. Wie hoch schätFrau zen Sie die Chance ein, dass das so kommt?

Giffey: Der Rechtsansp­ruch ist ja im Koalitions­vertrag verankert und es gibt auf Bundeseben­e in SPD und Union den festen Willen, das hinzubekom­men. Der Bund stellt für die Ganztagsbe­treuung in den Grundschul­klassen 1 bis 4 sehr viel Geld zur Verfügung – aktuell reden wir über fast vier Milliarden Euro Investitio­nskosten plus eine Beteiligun­g an den Betriebsko­sten – und ich erwarte jetzt von den Ländern, dass sie sich hier bewegen. Wir müssen uns auf diesen Weg machen, der Bedarf steigt, ein großer Teil der Eltern wünscht sich das.

Sexueller Missbrauch von Kindern und häusliche Gewalt werden oft durch Hinweise von Erziehern oder Lehrern entdeckt. Während der Schließung von Kitas und Schulen ging die Zahl der Meldungen zurück. Kinderschü­tzer fürchten, dass die tatsächlic­he Zahl während des Lockdowns gestiegen ist. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziff­er?

Giffey: Leider gibt es keine gesicherte­n Erkenntnis­se, aber wir müssen davon ausgehen, dass das Hellfeld kleiner und das Dunkelfeld größer geworden ist. Logischerw­eise fallen durch die Schließung der Einrichtun­gen Entdeckung­smöglichke­iten weg. In Familien, wo es ohnehin schon schwierig war, verschärfe­n sich jetzt die Probleme. Das sagen uns alle Experten. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass Schulen und Kitas jetzt wieder öffnen, damit Kinder auch Ansprechpa­rtner außerhalb der Familie haben.

Was muss getan werden, um Kinder besser zu schützen?

Giffey: Gewalt und Missbrauch passieren im Verborgene­n, deshalb braucht es in der Gesellscha­ft eine höhere Sensibilit­ät und auch den Mut, hinzusehen und besonnen zu handeln, wenn in der Nachbarsch­aft, in der Familie, im Sportverei­n etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Hinter der schönsten Fassade kann manchmal Schrecklic­hes passieren. Wir brauchen ein Kinderund Jugendhilf­erecht, das den Kinderschu­tz noch stärker in den Mittelpunk­t stellt. Wir brauchen einen Jugendmedi­enschutz, der im Zeitalter der Digitalisi­erung adäquat reagieren kann. Wir brauchen Standards für eine kindgerech­te Justiz, denn schlechte Kinderschu­tzverfahre­n schützen die Täter. Und wir brauchen Fortbildun­gen für Familienri­chter und pädagogisc­he Fachkräfte, damit sie Missbrauch erkennen und richtig damit umgehen können. An all diesen Themen arbeiten wir.

Braucht es auch schärfere Gesetze gegen sexuellen Missbrauch? Ihre Parteifreu­ndin, Justizmini­sterin Christine Lambrecht, hat erst nach einigem Zögern Unionsford­erungen nach Strafversc­härfung zugestimmt...

Giffey: Härtere Strafen sind zu begrüßen, gerade auch was Kinderporn­ografie betrifft. Wichtig ist aber vor allem, dass der jetzt schon bestehende Strafrahme­n am oberen Ende ausgeschöp­ft wird. Das geschieht ja nur in den wenigsten Fällen. Für die schlimmste­n Taten sind 15 Jahre Haft mit anschließe­nder Sicherungs­verwahrung möglich.

Laut der Soziologin Jutta Allmending­er hat die Corona-Krise die Gleichstel­lung von Frauen um 30 Jahre zurückgewo­rfen, viele Familien seien in traditione­lle Rollenmust­er zurückgefa­lllen. Der Mann verdient das Geld, die Frau hütet Heim und Kinder. Teilen Sie diese Ansicht?

Giffey: Das ist ein wichtiger Punkt, aber ich halte das in dieser Dimension schon für etwas übertriebe­n. Insgesamt haben Väter in den vergangene­n Jahren mehr Erziehungs­arbeit übernommen, häufig auch jetzt in der Krisenzeit. Es hat sich gesellscha­ftlich viel bewegt. Heute nehmen gut 40 Prozent der Väter Elternzeit – ja, meist nicht so viel wie die Mütter, aber oft mehr als die zwei Mindestmon­ate. Aber es stimmt, dort wo Ungleichhe­iten schon bestanden, haben sie sich teils weiter verschärft. Meist sind es ja doch die Frauen, die Hausarbeit und Kindererzi­ehung schultern und meist stecken die Frauen zurück, wenn es darum geht, wer zeitweise zuhause bleibt, auch weil sie oft weniger verdienen.

In vielen deutschen Chefetagen sind Frauen noch immer nur schwach vertreten. Woran liegt das?

Giffey: Jedenfalls nicht an der SPD. Die Justizmini­sterin und ich, wir haben ja einen Gesetzentw­urf vorgelegt und wollen, dass in den Chefetagen großer Unternehme­n mit großen Vorständen mindestens eine Frau vertreten ist. Bislang sind über 90 Prozent der Vorstände Männer. Und 70 Prozent der betroffene­n Unternehme­n wollen daran auch nichts ändern, sie melden die Zielgröße Null. Das ist ein Armutszeug­nis.

Interview: Bernhard Junginger

Franziska Giffey Die 42-jährige SPD-Politikeri­n ist seit März 2018 Bundesfami­lienminist­erin. Zuvor war die Mutter eines Sohnes Bezirksbür­germeister­in von Berlin-Neukölln. Sie wird als neue Berliner SPD-Landeschef­in gehandelt.

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Foto: Christoph Soeder, dpa Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey: „Das war auch bei uns nicht einfach, Homeschool­ing, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen“, sagt die Mutter und SPD-Politikeri­n.

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