Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Corona ist kein Gewitter, das vorbeizieh­en wird“

Die bekannte Münchner Virologin Ulrike Protzer rechnet damit, dass Covid-19 ähnliche Ausmaße wie die Hongkonggr­ippe vor 50 Jahren annimmt. Und sie warnt vor der Gefahr durch das Virus auch für junge Menschen

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Frau Prof. Protzer, Sie leiten das Institut für Virologie an der Technische­n Universitä­t München und sind – vor allem wohl durch das Coronaviru­s – eine der bekanntest­en Virologinn­en in der Republik. In Ihren Auftritten wirken Sie stets ruhig und sehr besonnen. Wie machen Sie das?

Ulrike Protzer: Nun, ich beschäftig­e mich ja schon seit Jahrzehnte­n mit dem Thema Viren und ihren Auswirkung­en. Da ist es natürlich nicht verwunderl­ich, dass ich dem so sachlich begegnen kann.

Besonnenhe­it ist in diesen Tagen sicherlich eine Tugend. Draußen in den Straßen sind viele Menschen unterwegs, die behaupten, Corona sei gar nicht wirklich gefährlich, sondern nur ein Instrument, um eine Diktatur in Deutschlan­d einzuführe­n, um dem Volk seine Freiheitsr­echte zu nehmen. Was halten Sie davon?

Protzer: Ich bin sehr froh, dass sich eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschlan­d vernünftig mit dem Thema Corona auseinande­rsetzt. Wenn man unser Land mit vielen anderen Staaten vergleicht, dann leben wir in einem ausgesproc­hen freien Land. Viel mehr besorgt mich die Situation in den USA. Dort ist der Bildungsst­and im Allgemeine­n viel niedriger. Darum ist das Land besonders anfällig für Verschwöru­ngstheorie­n.

Ist Corona wirklich gefährlich? Oder tatsächlic­h eher eine Krankheit, die vor allem betagte Menschen betrifft, die überdies im Regelfall mehrere Vorerkrank­ungen aufweisen …

Protzer: Dazu muss man sagen: Es gibt Kinder mit Corona, die auf Intensivst­ationen liegen. Und es sind auch schon junge Menschen ohne Vorerkrank­ungen an der Infektion plötzlich gestorben. Grundsätzl­ich stimmt aber natürlich: Je älter man ist und je mehr Vorerkrank­ungen man hat, desto gefährdete­r ist man. Diese Situation haben wir auch bei der „normalen“Grippe. Der Unterschie­d ist aber, dass wir Medikament­e und Impfstoffe gegen Grippe haben. Aber gegen Corona – zumindest noch – nicht. Das macht die Sache viel gefährlich­er.

Wie man immer wieder hört, führt eine schwere Corona-Infektion nicht nur zu einer Beeinträch­tigung der Lunge, sondern vieler weiterer Organsyste­me. Angeblich kommt es zu einer überschieß­enden Reaktion des Immunsyste­ms, einem sogenannte­n Zytokinstu­rm, der manchmal tödliche Auswirkung­en hat. Wie ist der aktuelle Kenntnisst­and? Protzer: Wir wissen inzwischen, dass Corona deutlich mehr Organsyste­me befallen kann als die Lunge. Im Vordergrun­d stehen dabei vor allem erhebliche Probleme des Herz

Kreislauf-Systems. Plötzlich bekommen etwa junge Menschen Thrombosen. Es besteht eine erhöhte Neigung zu Blutgerinn­seln. Dann drohen Schlaganfä­lle, Herzinfark­te. Das zweite große Problem ist tatsächlic­h die überschieß­ende Immunantwo­rt. Mit einem Mal werden zu viele bestimmte Botenstoff­e ausgeschüt­tet, die Reaktionen auslösen. Das kann bis zum Herz-KreislaufV­ersagen führen.

Wenn Corona in seiner schweren Verlaufsfo­rm ein überschieß­endes Entzündung­sereignis ist, erklärt das auch die neueste Nachricht aus Oxford, wonach sich in einer Studie in zahlreiche­n britischen Kliniken gezeigt habe, dass der altbekannt­e Entzündung­shemmer Dexamethas­on in dieser Situation hilft? Das Mittel wird ja sonst etwa bei Rheuma verwendet. Könnte das der aktuelle Durchbruch auf der Suche nach einem Medikament sein – während die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s ja weiterhin auf sich warten lässt? Protzer: Ja, mit Dexamethas­on – einem künstliche­n Cortison – kann man offenbar den Zytokinstu­rm in den Griff kriegen. Die Kunst ist es, richtig zu dosieren. Denn wenn ich zu viel gebe, fährt das Immunsyste­m völlig herunter. Und das kann ich bei einer Corona-Infektion gar nicht brauchen.

Schaut man sich Corona-Nachrichte­n der vergangene­n Tage an, ist von einer Beruhigung der Situation auf der Welt gar nichts zu sehen. In Brasilien ist die Lage längst außer Kontrolle. Sehr starke Anstiege der Neuinfekti­onen werden etwa in Saudi-Arabien und Israel sowie in vielen US-Bundesstaa­ten wie Texas, Florida oder Arizona gemeldet. Teile Pekings wurden nach einem Corona-Neuausbruc­h abgeriegel­t. Sind das Zeichen einer zweiten Welle? Protzer: Es ist ein Zeichen dafür, dass wir das Virus immer noch nicht im Griff haben – und kein Zeichen für eine zweite Welle. Zurzeit zirkuliert Corona sehr stark auf der Südhalbkug­el der Erde. Und in Staaten, die zu schnell gelockert haben. Wie etwa Israel. Dann kommt das Virus eben verstärkt zurück.

Schweden hat nur zehn Millionen Einwohner, aber schon über 5000 Tote. Deutschlan­d hat mit 82 Millionen Einwohnern rund 9000 Tote zu beklagen. Sind diese Zahlen nicht ein Beleg dafür, dass Schweden mit seiner lockeren Corona-Politik komplett gescheiter­t ist?

Protzer: Die Zahlen sind die Folge einer lockeren Corona-Politik. Die Schweden waren sich sicher darüber im Klaren, was sie taten. Dennoch haben sie die Situation womöglich unterschät­zt.

Die Spanische Grippe kostete vor 100 Jahren 50 Millionen Menschenle­ben. Die Hongkonggr­ippe von 1968 bis 1970 forderte je nach Schätzung ein bis zwei Millionen Menschenle­ben auf der Welt, davon angeblich 40000 in der damalig kleineren Bundesrepu­blik. Aktuell haben wir – geschätzt – eine knappe halbe Million Todesopfer durch Corona auf der Welt. Wird Corona schlimmer als die Hongkonggr­ippe?

Protzer: Ich befürchte, dass Corona ähnliche Ausmaße erreichen wird.

Der Bund ist bei der Tübinger Firma CureVac eingestieg­en, an der schon Donald Trump großes Interesse hatte. Die Tübinger gaben ihm aber einen Korb. Das Unternehme­n will noch in diesem Monat einen Impfstoff an Menschen testen. Weltweit sind über hundert Unternehme­n dabei, einen Impfstoff zu finden. Ihre persönlich­e Vermutung: Wann gibt es den Impfstoff?

Protzer: Ich rechne nicht vor Mitte 2021 damit. Und dann wird er auch zunächst nur für Risikogrup­pen zur Verfügung stehen. Ich finde es insgesamt sehr gut, dass sich so viele um einen Impfstoff bemühen. Das kostet ja auch viel Geld. Ohne zu wissen, ob sich das auszahlen wird. Wichtig ist mir aber eines: Die Sicherheit­stestungen dürfen nicht beschleuni­gt werden. Also: Es muss klar nachgewies­en sein, dass ein Impfstoff erstens tatsächlic­h etwas bringt. Und zweitens, dass er keine oder so gut wie keine Nebenwirku­ngen hat.

Es gibt auch Kinder, die auf Intensivst­ationen liegen

Zum Schluss: Bleiben Sie besonnen? Protzer: Ja, das mache ich. Und die Entwicklun­gen auf der Welt zeigen, dass wir weiter besonnen bleiben müssen. Dazu gehört im Übrigen auch, nicht überzureag­ieren. Aber Corona ist kein Gewitter, das vorbeizieh­en wird. Das bleibt uns erst einmal. Interview: Markus Bär

Professor Ulrike Protzer, 57, ist eine der renommiert­esten deutschen Virologinn­en. Sie leitet das Institut für Virologie an der TU München und das Helmholtz Zentrum München. Protzer ist verheirate­t und hat zwei Kinder.

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Foto: Sven Hoppe, dpa Was den Berlinern ihr Prof. Christian Drosten ist, ist den Münchnern Prof. Ulrike Protzer. Die 57-jährige Leiterin des Institutes für Virologie an der Technische­n Universitä­t München ist aufgrund der Corona-Krise durch Medienberi­chte bekannt geworden.

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