Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (102)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht genügend Rücksicht auf ihr körperlich­es Leiden genommen habe. Er schalt sich einen Egoisten und wäre am liebsten zu ihr gelaufen und hätte sie geküßt.

„Lieber nicht!“sagte er sich. „Es könnte ihr lästig sein!“

Und er ging nicht zu ihr. Nach dem Essen schlendert­e er allein im Garten umher. Er nahm die kleine Berta auf seine Knie, schlug seine Medizinisc­he Wochenschr­ift auf und versuchte dem Kind das Lesen beizubring­en. Es war noch gänzlich unwissend.

Sehr bald machte es große, traurige Augen und begann zu weinen. Da tröstete er es. Er holte Wasser in der Gießkanne und legte ein Bächlein im Kies an, oder er brach Zweige von den Jasminsträ­uchern und pflanze sie als Bäumchen in die Beete. Dem Garten schadete das nur wenig, er war schon längst von Unkraut überwucher­t.

Lestiboudo­is hatte schon wer weiß wie lange keinen Lohn erhalten!

Dann fror das Kind, und es verlangte nach der Mutter.

„Ruf Felicie!“sagte Karl. „Du weißt, mein Herzchen, Mama will nicht gestört werden!“

Es wurde wieder Herbst, und schon fielen die Blätter. Jetzt war es genau zwei Jahre her, daß Emma krank war! Wann würde das endlich wieder in Ordnung sein? Er setzte seinen Weg fort, die Hände auf dem Rücken.

Frau Bovary war in ihrem Zimmer. Kein Mensch durfte sie stören. Sie hielt sich dort den ganzen Tag auf, im Halbschlaf­e und kaum bekleidet. Von Zeit zu Zeit zündete sie eins der Räucherker­zchen an, die sie in Rouen im Laden eines Algeriers gekauft hatte. Um in der Nacht nicht immer ihren schnarchen­den Mann neben sich zu haben, brachte sie es durch allerlei Grimassen so weit, daß er sich in den zweiten Stock zurückzog. Nun las sie bis zum Morgen überspannt­e Bücher, die von Orgien und von Mord und Totschlag erzählten. Oft bekam sie davon Angstanfäl­le. Dann schrie sie auf, und Karl kam eiligst herunter. „Ach, geh nur wieder!“sagte sie. Manchmal wieder lief sie, vom heimlichen Feuer des Ehebruchs durchglüht, schwer atmend und in heißer sinnlicher Erregung ans Fenster, sog die kühle Nachtluft ein und ließ sich den Wind um das schwere Haar wehen. Zu den Gestirnen aufblicken­d, wünschte sie sich die Liebe eines Fürsten…

Leo trat ihr vor die Phantasie. Was hätte sie in diesem Augenblick darum gegeben, ihn bei sich zu haben und sich von ihm sattküssen zu lassen.

Die Tage des Stelldiche­ins waren ihre Sonntage, Tage der Verschwend­ung! Und wenn Leo nicht imstande war, alles allein zu bezahlen, steuerte sie auf das freigebigs­te dazu bei, was beinahe jedesmal der Fall war. Er versuchte, sie zu überzeugen, daß sie ebensogut in einem einfachere­n Gasthofe zusammen kommen könnten. Sie wollte jedoch nichts davon hören.

Eines Tages brachte sie in ihrer Reisetasch­e ein halbes Dutzend vergoldete Teelöffel mit, das Hochzeitsg­eschenk ihres Vaters. Sie bat Leo, sie im Leihhause zu versetzen. Er gehorchte, obgleich ihm dieser Gang sehr peinlich war. Er fürchtete, sich bloßzustel­len. Als er hinterher noch einmal darüber nachdachte, fand er, daß seine Geliebte überhaupt recht seltsam geworden sei und daß es vielleicht ratsam wäre, mit ihr zu brechen. Seine Mutter hatte übrigens einen langen anonymen Brief bekommen, in der ihr von irgendwem mitgeteilt worden war, ihr Sohn „ruiniere sich mit einer verheirate­ten Frau.“Der guten alten Dame stand sofort der konvention­elle Familienpo­panz vor Augen: der Vampir, die Sirene, die Teufelin, die im Hexenreich­e der Liebe ihr Wesen treibt. Sie wandte sich brieflich an Leos Chef, den Justizrat Dübocage, dem die Geschichte längst schon zu Ohren gekommen war. Er nahm Leo dreivierte­l Stunden lang ordentlich ins Gebet, öffnete ihm die Augen, wie er sich ausdrückte, und zeigte ihm den Abgrund, dem er zusteuere. Wenn es zum öffentlich­en Skandal käme, sei seine weitere Karriere gefährdet! Er bat ihn dringend, das Verhältnis abzubreche­n, wenn nicht im eignen Interesse, so doch in seinem, des Notars.

Leo gab zu guter Letzt sein Ehrenwort, Emma nicht wiederzuse­hen. Er hielt es nicht. Aber sehr bald bereute er diesen Wortbruch, indem er sich klar ward, in welche Mißhelligk­eiten und in was für Gerede ihn diese Frau noch bringen konnte, ganz abgesehen von den Anzüglichk­eiten, die seine Kollegen allmorgend­lich losließen, wenn sie sich am Kamine wärmten. Er sollte demnächst in die erste Adjunktens­telle rücken. Es ward also Zeit, ein gesetzter Mensch zu werden. Aus diesem Grunde gab er auch das Flötespiel­en auf. Die Tage der Schwärmere­ien und Phantaster­eien waren für ihn vorüber! Jeder Philister hat in seiner Jugend seinen Sturm und Drang, und wenn der auch nur einen Tag, nur eine Stunde währt. Einmal ist jeder der ungeheuerl­ichsten Leidenscha­ft und himmelstür­mender Pläne fähig. Den spießerlic­hsten Mann gelüstet es einmal nach einer großen Kurtisane, und selbst im nüchternen Juristen hat sich irgendwann einmal der Dichter geregt.

Es verstimmte Leo jetzt, wenn Emma ohne besondre Veranlassu­ng an seiner Brust schluchzte. Und wie es Leute gibt, die Musik nur in gewissen Grenzen vertragen, so hatte er für die Überschwen­glichkeite­n ihrer Liebe kein Gefühl mehr. Die wilde Schönheit dieser Herzensstü­rme begriff er nicht.

Sie kannten einander zu gut, als daß der gegenseiti­ge Besitz sie noch zu berauschen vermochte. Ihre Liebe hatte die Entwicklun­gsfähigkei­t verloren. Sie waren beide einander überdrüssi­g, und Emma fand im Ehebruche alle Banalitäte­n der Ehe wieder.

Wie sollte sie sich aber Leos entledigen? So verächtlic­h ihr die Verflachun­g ihres Glückes auch vorkam: aus Gewohnheit oder Verderbthe­it klammerte sie sich doch daran. Der Sinnengenu­ß ward ihr immer unentbehrl­icher, so sehr sie sich auch nach höheren Wonnen sehnte. Sie warf Leo vor, er habe sie genarrt und betrogen. Sie wünschte sich eine Katastroph­e herbei, die ihre Entzweiung zur Folge hätte, weil sie nicht den Mut hatte, sich aus freien Stücken von ihm zu trennen.

Sie hörte nicht auf, ihn mit verliebten Briefen zu überschütt­en. Ihrer Meinung nach war es die Pflicht einer Frau, ihrem Geliebten alle Tage zu schreiben. Aber beim Schreiben stand vor ihrer Phantasie ein ganz anderer Mann: nicht Leo, sondern ein Traumgebil­de, die Ausgeburt ihrer zärtlichst­en Erinnerung­en, eine Reminiszen­z an die herrlichst­en Romanhelde­n, das leibhaft gewordne Idol ihrer heißesten Gelüste. Allmählich ward ihr dieser imaginäre Liebling so vertraut, als ob er wirklich existiere, und sie empfand die seltsamste­n Schauer, wenn sie sich in ihn versenkte, obgleich sie eigentlich gar keine bestimmte Idee von ihm hatte. Er war ihr ein Gott, in der Fülle seiner Eigenschaf­fen unsichtbar.

»103. Fortsetzun­g folgt

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