Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Gewaltnacht von Stuttgart
Eine Polizeikontrolle löst inmitten der Landeshauptstadt Baden-Württembergs Straßenschlachten aus. Anwohner, Politiker und Polizeibeamte sind fassungslos
Stuttgart Der Kommentar eines Polizeisprechers am frühen Sonntagmorgen sprach Bände: „Die Situation ist völlig außer Kontrolle“, lautete er. Ein Satz, den Polizeisprecher fürchten, den sie eigentlich nicht sagen wollen, klingt er doch wie ein Hilferuf. Wie das Eingeständnis einer Kapitulation. Andererseits entsprach er ja der Wahrheit – und den Geschehnissen einer Nacht, wie sie Stuttgart so noch nicht erlebt hatte.
In der Nacht zum Sonntag also hatte es schwere Auseinandersetzungen zwischen hunderten Gewalttätern mit der Polizei gegeben, regelrechte Straßenschlachten. Dabei wurden 19 Beamte verletzt, einer davon ist nun dienstunfähig. Die Innenstadt wurde verwüstet. Polizeivizepräsident Thomas Berger, der seit 30 Jahren Polizist ist, sagte am Sonntag: „Solche Szenen hat es noch nie gegeben.“Erst am Morgen hatte sich die unübersichtliche Lage beruhigt.
Grund für die Krawalle: eine Polizeikontrolle eines 17-jährigen Deutschen anlässlich eines mutmaßlichen Drogendelikts gegen 23.30 Uhr im Schlossgarten. Sofort hätten sich 200 bis 300 Personen aus der Partyszene mit dem Jugendlichen solidarisiert und die Beamten mit Steinen und Flaschenwürfen angegriffen, erklärte die Polizei. Die Zahl der Randalierer sei dann auf bis zu 500 Personen angewachsen.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) sagte am Sonntag: „Diese Taten gegen Menschen und Sachen sind kriminelle
„Solche Szenen hat es noch nie gegeben“
Polizeivizepräsident Thomas Berger
Akte, die konsequent verfolgt und verurteilt gehören.“Die Bilder aus der Stuttgarter Innenstadt könnten „uns nicht kalt lassen“. Nun müsse man die Erkenntnisse zusammentragen und mit Hochdruck klären, wer dahinterstecke. Laut Polizei waren die Randalierer in Kleingruppen unterwegs. Sie bat Zeugen um Mithilfe bei den Ermittlungen – zur Aufklärung der Straftaten benötige man Bilder und Videos von den Ausschreitungen, Straftaten und mutmaßlichen Tatverdächtigen.
Zur Sicherheit blieb die Polizei auch am Sonntag mit einem Großaufgebot in der Innenstadt präsent. Anwohner äußerten sich in der Zeitung Stuttgarter Nachrichten fassungslos. „Diese rohe Gewalt schockiert mich. Unvorstellbar, dass so etwas in Stuttgart passiert“, zitierte sie einen Mann. In der Königstraße, am Schlossplatz und in der Marienstraße gebe es eine „Schneise der Verwüstung“, schrieb das Blatt, und dass Geschäfte geplündert wurden und überall herausgerissene Pflastersteine und Scherben liegen würden. Die Polizei bilanzierte, dass die Randalierer 40 Geschäfte beschädigt und neun geplündert hätten.
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) will den Landtag am Mittwoch in einer Sondersitzung des Innenausschusses unterrichten. Auch wenn die genauen Hintergründe noch unklar sind, führten die Ausschreitungen in der Schwabenmetropole bereits zu hitzigen politischen Debatten. Die Deutsche Polizeigewerkschaft in BadenWürttemberg, aber auch Stimmen aus CDU und AfD kritisierten etwa SPD-Bundeschefin Saskia Esken für ihre Äußerungen über einen „latensehe, ten Rassismus“bei der Polizei, für die sie teils auch aus den eigenen Reihen viel Kritik einstecken musste. Zwischenzeitlich hatte Esken ihre Äußerungen relativiert. Die SPDChefin selbst kritisierte am Sonntag auf Twitter die „sinnlose, blindwütige Randale“in Stuttgart. Die Gewalttäter müssten hart bestraft werden. „Unbegreiflich, wie die Situation derart eskalieren konnte.“
Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn von den Grünen nannte neben Alkohol das Geltungsbewusstsein in sozialen Medien als Grund für die Ausschreitungen. Es könne nicht angehen, dass man aus welchen Gründen auch immer die Polizei angreife und Geschäfte plündere, sagte er bei einer Pressekonferenz. Wenn er Facebook-Filmchen nach dem Muster „Fuck the police“
dann sei das etwas, das in Stuttgart nichts zu suchen habe.
Nach Angaben der Polizei waren die Ausschreitungen nicht politisch motiviert. „Wir können aus der momentanen Sicht der Dinge eine linkspolitische oder überhaupt eine politische Motivation für diese Gewalttaten ausschließen“, erklärte der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz.
Am Sonntagnachmittag wurde schließlich bekannt, dass mindestens sieben der 24 vorläufig Festgenommenen dem Haftrichter vorgeführt werden. Von den vorläufig Festgenommenen seien sieben unter 18 und sieben zwischen 18 und 21 Jahre alt. Bei zwölf der 24 Tatverdächtigen handele es sich um deutsche Staatsbürger, bei den anderen um NichtDeutsche.