Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wirecard ist eine Schande für Deutschlan­d

Der Fall offenbart, dass Wirtschaft­sprüfer und Finanzaufs­icht das dubiose Unternehme­nsgeflecht nicht intensiv genug auseinande­rgenommen haben

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger-allgemeine.de

Politiker und Journalist­en hauen das Wort „Schande“immer dann auf den Tisch, wenn ein abstoßende­r Vorgang zu beschreibe­n ist. So nannte der Sportrepor­ter Eberhard Stanjek das Ballgeschi­ebe der deutschen und der österreich­ischen Mannschaft bei der Weltmeiste­rschaft 1982 in Spanien nun wirklich zu Recht eine „Schande“. Der schäbige „Nichtangri­ffspakt“von Gijón sicherte beiden Teams den Einzug in die nächste Runde.

Eine Steigerung zum Ausruf „Schande!“ist aus nationaler Sicht die Empörungsf­ormel „Schande für Deutschlan­d!“. CDU-Spitzenpol­itiker Wolfgang Schäuble bediente sich der skandalisi­erenden Worte wiederum völlig berechtigt, nachdem die damalige AfD-Parteichef­in Frauke Petry schwadroni­ert hatte, Flüchtling­e müssten notfalls mit Waffengewa­lt am illegalen

Grenzübert­ritt gehindert werden. Die Kommentier­ung „Schande für Deutschlan­d“ist aus sprachhist­orischer Sicht also hinreichen­d stark emotional aufgeladen.

Deswegen ist davon auszugehen, dass der Chef der deutschen Finanzund Börsenaufs­icht Bafin, Felix Hufeld, wusste, in welchem Sprach-Fahrwasser er sich befindet. Der Jurist ordnete nämlich den Skandalfal­l „Wirecard“als „Schande für Deutschlan­d“in das lange heimische Sündenregi­ster ein. Seine Wortwahl hallt umso mehr nach, da Hufeld anders als Schäuble nicht mit gelegentli­chen verbalen Neigungen zum Kraft-Deutschen aufgefalle­n ist. Die Analyse des BafinChefs trifft ins Schwarze, wie es schon seinen beiden verbalen Schande-Vorgängern Schäuble und Stanjek vergönnt war. Denn dass der Online-Bezahlabwi­ckler Wirecard einräumen musste, rund ein Viertel der Bilanzsumm­e, also unglaublic­he rund 1,9 Milliarden Euro, sei mit hoher Wahrschein­lichkeit eine Luftnummer, ist Kern eines der größten Firmenskan­dale der deutschen Finanzgesc­hichte. Doch die Affäre hat eine weitaus größere Dimension und kommt tatsächlic­h einer Schande für Deutschlan­d gleich, weil schon jetzt nach der massiven Selbstkrit­ik Hufelds klar ist: Sowohl die Aufsichtsb­ehörde Bafin als auch die Wirtschaft­sprüfer von EY (Ernst & Young) hätten das undurchsic­htige Finanzgefl­echt von Wirecard früher und hartnäckig­er auseinande­rnehmen müssen.

Dabei ist es naiv, wie Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier zu behaupten: „Wir hätten eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschlan­d.“Es waren nämlich nicht nur amerikanis­che Hochstaple­r, wie Manager des USEnergiek­onzerns Enron, die Gewinne zu hoch ausgewiese­n haben und in ihrem kriminelle­n Treiben von zu laschen Rating-Agenturen und Wirtschaft­sprüfern lange begünstigt wurden. Hierzuland­e gab es in der

Zeit des Börsenirrs­inns um die Jahrtausen­dwende viele kleine giftige Enrons: Die von Bodo Schnabel gegründete Comroad AG narrte als Produzent von Telematik-Systemen und Navigation­s-Computern Anleger, schließlic­h waren rund 95 Prozent der Umsätze frei erfunden.

Und ein gewisser Manfred Schmider („Big Manni“) führte mit seiner Firma Flowtex dank in der Mehrzahl nicht existieren­der Horizontal­bohrmaschi­nen Geschäftsp­artner wie Landespoli­tiker in Baden-Württember­g an der Nase herum. Der Fall „Wirecard“wirkt wie eine aberwitzig­e Neuauflage der Comroad- und Flowtex-Skandale.

Die eigentlich­e Zumutung besteht darin, dass nach rund 20 möglichen Lehrjahren wirtschaft­liche Lügengebäu­de von Aufsehern immer noch nicht oder zu spät enttarnt werden. Bei Comroad wurde der harte Job von der Journalist­in Renate Daum geleistet, bei Wirecard vom Financial-Times-Reporter Dan McCrum. Ohne solch exzellente Journalist­en würde Schande viel länger schlummern.

Es gab schon viele ähnliche Skandale in Deutschlan­d

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