Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Fast die Hälfte der Ischgler war infiziert

Forscher haben bei 42 Prozent der Einwohner Antikörper gegen das Coronaviru­s entdeckt. Das ist der höchste belegte Wert weltweit. Nur die wenigsten zeigten tatsächlic­h Symptome

- VON MICHAEL BACHNER

Wien Wenn Negativwer­bung wirkt, wie Fachleute behaupten, dann stehen der europaweit­en CoronaDreh­scheibe Ischgl eine ungetrübte Sommersais­on und eine neuerlich starke Wintersais­on bevor. Der Skiund Party-Ort Ischgl im Tiroler Paznauntal kommt nicht aus den Schlagzeil­en.

Am Donnerstag wurde eine Studie der Universitä­t Innsbruck publik, die wirklich Erstaunlic­hes zutage gefördert hat. 42,4 Prozent der Einwohner wiesen im Untersuchu­ngszeitrau­m 21. bis 27. April Antikörper gegen das Virus im Blut auf. Ischgl hat 1600 Einwohner. Nahezu die Hälfte der erwachsene­n Bevölkerun­g Ischgls hat also eine Infektion mit dem Coronaviru­s durchgemac­ht.

Das ist der höchste bisher wissenscha­ftlich belegte Wert weltweit und wohl ein neuerliche­r Beleg dafür, wie ungestört sich das Coronaviru­s in den Diskotheke­n und Après-Ski-Bars Ischgls ausbreiten konnte. Die Studie ist auch Wasser auf die Mühlen der Kläger in Deutschlan­d, Österreich und vielen anderen Ländern Europas, die den

Behörden eine zu träge Reaktion auf die Gefahren des Virus vorwerfen. Ischgl steht angesichts der Versäumnis­se vor Ort und der späteren Rechtferti­gungsversu­che der Tiroler Landespoli­tik für Profitgier und Verantwort­ungslosigk­eit.

Die ersten Warnungen waren schon am 5. März aus Island gekommen. Heimreisen­de, die zuvor im Skiurlaub in Tirol gewesen waren, wurden positiv auf Corona getestet. Doch es dauerte bis zum 13. März, ehe die österreich­ischen Behörden Ischgl und andere bekannte Skiorte wie St. Anton am Arlberg unter Quarantäne stellten.

Für Studienlei­terin Dorothee von Laer, Chef-Virologin an der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck, legen die Ergebnisse ihrer Untersuchu­ng nun nahe, dass sich das Virus schon ab Mitte Februar in Ischgl unbemerkt ausgebreit­et haben dürfte. Dazu sei freilich noch eine vertiefend­e Studie nötig.

Doch das ist dem österreich­ischen Verbrauche­rschützer Peter Kolba egal. Er vertritt mit seinem Sammelklag­e-Verein VSV rund tausend Kläger, darunter auch viele deutsche Urlauber. Kolba jubelte am Donnerstag bereits über die Innsbrucke­r Studie: „Damit fällt die Argumentat­ion der Tiroler Behörden in sich zusammen. Hätte man bei Personen mit ersten – vielleicht auch unklaren – Symptomen immer gleich getestet, dann wäre das auch bekannt gewesen und die Behörden hätten das Paznauntal zumindest eine Woche früher unter Quarantäne stellen müssen.“Kolba ist überzeugt: „Das hätte tausende Touristen vor einer Infektion mit teils schweren Folgen bewahrt.“

Interessan­t ist auch die erstaunlic­h hohe Dunkelziff­er. So waren nur 15 Prozent der Menschen, die jetzt Antikörper im Blut haben, zuvor mittels PCR-Test positiv auf das Virus getestet worden. Im Umkehrschl­uss heißt das: 85 Prozent hatten gar keine oder so geringe Symptome, dass sie nicht getestet wurden und auch nichts vom Virus in ihrem Körper ahnten. „85 Prozent haben die Infektion also unbemerkt durchgemac­ht“, sagt Studienlei­terin Dorothee von Laer.

In Ischgl selbst gab es zwei Todesfälle nach einer Corona-Infektion, neun Patienten mussten im Krankenhau­s versorgt werden, einer davon auf der Intensivst­ation. Wie viele Todesfälle in ganz Europa letztlich auf Ischgl zurückzufü­hren sind, ist wohl kaum belegbar.

An der Studie haben rund 80 Prozent der Einwohner Ischgls teilgenomm­en – davon 1259 Erwachsene und 214 Kinder. Durch ein mehrstufig­es Verfahren liege die Genauigkei­t der Tests bei 100 Prozent, soll heißen, es gibt keine falsch positiv Getesteten. Wichtig zu wissen ist: Trotz des hohen Anteils an Menschen mit Antikörper­n gehen die Forscher nicht davon aus, dass in Ischgl die viel diskutiert­e Herdenimmu­nität erreicht wurde. Dies dürfte erst bei einem Anteil von 60 bis 70 Prozent immuner Personen der Fall sein. Entscheide­nd für den Rückgang der Fälle seien die Quarantäne und das Einhalten der Abstandsre­geln gewesen, hieß es.

Die Quarantäne über Ischgl ist freilich längst aufgehoben und die Hotels und Bars werben bereits wieder um Gäste – vorerst um Sommergäst­e, also Wanderer und Erholungss­uchende. Ob die berühmt-berüchtigt­en Après-Ski-Bars wie das „Kitzloch“oder das „Schatzi“oder die Disco „Kuhstall“im Winter so einen Ansturm an Partygänge­rn sehen werden wie in den vergangene­n Jahren, steht in den Sternen.

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