Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schwer getroffen

Menschen greifen Polizisten an. Gangster-Rapper beschimpfe­n die Einsatzkrä­fte als „Bastardver­ein“: Die Polizei macht harte Zeiten durch. Aber sie kämpft auch gegen Rassismus und Gewalt in den eigenen Reihen. Verschiebt sich da etwas im Land?

- VON JÖRG HEINZLE, JAN KANDZORA UND SARAH RITSCHEL

Ende Mai sorgt ein Polizeiein­satz in der Augsburger Maximilian­straße für enormes Aufsehen. Viele Menschen sind an dem Abend auf der Partymeile unterwegs, so viele wie vor Corona-Zeiten. Die Polizei spricht, weil Sicherheit­sabstände nicht eingehalte­n werden, Platzverwe­ise aus. Vor einer Bar, an der besonders viel los ist, eskaliert die Situation. Handyvideo­s zeigen eine Auseinande­rsetzung zwischen mehreren Polizisten, der Wirtin und deren Mutter. Eine unübersich­tliche Lage, eine aufgebrach­te Stimmung, Menschen rufen „Polizeigew­alt“.

Ob an dem Einsatz rechtlich etwas zu beanstande­n ist, ist noch offen. Das Landeskrim­inalamt prüft, wie in solchen Fällen üblich, das Verhalten der Beamten. Gegen die Wirtin und ihre Mutter wird ermittelt, unter anderem wegen des Vorwurfs des tätlichen Angriffs auf Vollstreck­ungsbeamte. Nach Informatio­nen unserer Redaktion soll eine der Frauen einen Beamten so heftig in den Oberschenk­el gebissen haben, dass er im Krankenhau­s behandelt werden musste. Er erlitt zudem einen Bänderriss. Auch weitere Polizisten wurden verletzt.

Was bereits klar ist: Hunderte, wenn nicht tausende Menschen haben die Videos im Netz gesehen, weiterverb­reitet und anhand der wackeligen, unvollstän­digen Aufnahmen längst ihr Urteil gefällt. Pro Polizei, contra Polizei – fast immer passend zum eigenen Weltbild. Für die Polizei sind solche Videos und die folgenden, vor allem virtuellen Debatten keine ungewöhnli­che Situation mehr. In Augsburg nicht, in Stuttgart nicht – aber auch nicht auf dem Dorffest fernab der Großstadt.

Seit in den USA der Schwarze George Floyd bei einem brutalen Polizeiein­satz umgebracht worden ist, wird auch hierzuland­e heftig diskutiert. Über das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerun­g. Über die Frage, wie verbreitet Rassismus in der Polizei ist. Und, nach den Ausschreit­ungen in Stuttgart noch einmal verschärft, über Attacken auf Polizisten. Hat sich da was verschoben in unserem Land? Ist aus dem Bild vom „Freund und Helfer“für manche Teile der Bevölkerun­g eher ein Feindbild geworden? Und warum ist das so?

Wer sich mit Polizisten aus Augsburg unterhält, die jahrelange Erfahrunge­n im Außeneinsa­tz haben, bekommt ein differenzi­ertes Bild. Es stimme, dass einige kritische Situatione­n vermehrt auftreten würden, sagt Klaus Lidl, als Außendiens­tleiter beim Augsburger Präsidium oft mittendrin im Geschehen. Er ist draußen der Chef aller Polizeistr­eifen. Wird es irgendwo brenzlig, rückt Lidl an. Er erzählt, dass sich Unbeteilig­te mit Menschen solidarisi­eren, die von Maßnahmen der Polizei betroffen sind, dass der Konflikt manchmal in Gewalt gegen Beamte münde. Manches sei anders als früher, die Arbeit anspruchsv­oller. Aber wird es immer schlimmer? Das sieht Lidl nicht so. Man stehe als Polizist heutzutage anders im Fokus, die Menschen seien kritischer gegenüber Autoritäte­n. Aber, sagt Lidl, er habe nicht vor jedem Einsatz die Sorge, dass er eskalieren könne. Lidl ist 41 Jahre alt, seit 22 Jahren

Polizist – und keiner, der verlangt, dass die Polizei härter durchgreif­en müsste. Mit Kommunikat­ion, sagt er, komme man oft viel weiter, auch wenn er den Eindruck habe, dass die Gesellscha­ft ein anderes Verhältnis zu Autoritäte­n habe als früher.

Vor allem eines habe sich aber geändert: dass Polizisten im Einsatz oft gefilmt werden, von der gegenüberl­iegenden Straßensei­te, von Balkonen. Verboten ist das erst mal nicht, aber für Beamte, die vor zwanzig oder noch vor zehn Jahren bei der Polizei angefangen haben, dennoch etwas, worauf sie sich erst einstellen mussten. Das berichtet auch Christian Bleicher, Zugführer bei einem Einsatzzug des Präsidiums. Auch seine Einheit ist immer dann gefragt, wenn es größere „Lagen“, wie es im Polizeideu­tsch heißt, zu bewältigen gilt. Etwa eine Demonstrat­ion, ein Volksfest oder Einsätze im Nachtleben, bei denen die Streifen dringend Unterstütz­ung brauchen. Christian Bleicher sagt, dass es in manchen Fällen nicht beim Filmen bleibe.

Dass die Filmer manchmal auch die Polizei störten – und man in diesen Fällen eingreifen müsse. Dass die Gewalt gegen Beamte massiv zunehme, beobachtet aber auch er nicht, selbst wenn man beim Einsatzzug öfter davon betroffen sei als andere Polizisten. Bleicher sagt, er habe schon vor zehn oder 15 Jahren seine Schichten immer wieder mit Kratzern, kleineren Schürfwund­en und blauen Flecken beendet. Vor allem dann, wenn es im Augsburger Nachtleben, von der Polizei als Partyszene bezeichnet, hoch herging.

Das Bundeskrim­inalamt, das jährliche Lagebilder zu Gewalt gegen Polizisten veröffentl­icht, hat im Jahr 2019 bundesweit 36959 Fälle von „Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf die Staatsgewa­lt“erfasst. Eine Zahl, die zwar deutlich höher ist als der Durchschni­ttswert der letzten 15 Jahre, der bei 25992 Fällen liegt, aber dennoch nur bedingt aussagekrä­ftig ist, da 2017 „bisherige Straftatbe­stände geändert und neue Straftatbe­stände geschaffen“wurden, wie es im Lageberich­t heißt. Der Forscher Rafael Behr, Professor für Polizeiwis­senschaft an der Akademie der Polizei in Hamburg, empfiehlt, bei den Statistike­n genau hinzuschau­en. Nicht alles, was die Polizei als Gewalttat registrier­t, ist nämlich mit einem körperlich­en Schaden verbunden. „Mittlerwei­le wird auch die Absicht, einen Polizisten zu verletzen, bestraft. Das lässt die Statistik extrem steigen.“Die tatsächlic­he Gewalt gegen Einsatzkrä­fte nehme zumindest nicht in dem Maße zu, wie es die Politik und Interessen­sgruppen mitunter behauptete­n.

Erfahrene Polizeibea­mte wie Klaus Lidl und Christian Bleicher haben trotzdem schon die ein oder andere Verletzung davongetra­gen. Bleichers Erfahrung nach sind Menschen, die Polizisten attackiere­n, oft betrunken oder unter Drogeneinf­luss. So fallen Hemmungen, die im nüchternen Zustand oft noch da sind. Bleichers Einschätzu­ng deckt sich offizielle­n Statistike­n. Laut dem Lagebild „Gewalt gegen Polizeibea­mte in Bayern 2019“waren in zwei Dritteln der Fälle, in denen Polizisten angegriffe­n wurden, Alkohol oder Drogen im Spiel. Fest steht: Es gibt ein massives Stadt-Land-Gefälle. In der Stadt Augsburg zählte die Polizei voriges Jahr 502 Übergriffe auf Beamte, davon 202 körperlich­e Attacken. Im benachbart­en Kreis Aichach-Friedberg waren es nur 37 Übergriffe.

In der Stadt gibt es auch eine größere Szene, die in der Polizei mehr Feind als Freund sieht. Politische Extremiste­n, egal ob von links oder rechts, sind zumindest in Augsburg nicht das Problem. Beamte berichten eher davon, dass sich in sozial schwächere­n Milieus Jugendgrup­pen finden, die einem „kriminelle­n Lifestyle“nacheifern. Häufig haben sie einen Migrations­hintergrun­d, aber längst nicht alle.

Mehr Feind als Freund: Wer über Gewalt gegen Polizeibea­mte spricht, darf auch die Aggression nicht verschweig­en, die von Beamten selbst ausgeht. Übermäßige Polizeigew­alt, die auch manche Zuschauer beim Einsatz in der Augsburger Maxstraße gesehen haben wollen. Tobias Singelnste­in, Professor für Kriminolog­ie an der Ruhr-Universitä­t Bochum, arbeitet an einer großen Studie zur Körperverl­etzung im Amt durch Polizisten. In Online-Fragebögen haben Singelnste­in und sein Team 3400 mutmaßlich­e Opfer befragt. Die Studie geht davon aus, dass jährlich mindestens 10 000 Fälle illegaler Polizeigew­alt im Verborgene­n geschehen, man spricht auch vom Dunkelfeld. Das Hellfeld stellen die Fälle dar, in denen tatsächlic­h gegen Beamte ermittelt wird. Rund 2000 Mal jährlich passiert das. Im Jahr 2018 stellten die Staatsanwa­ltschaften mehr als 97 Prozent der Verfahren ein – auffällig viele, findet Singelnste­in: „Oft gibt es Beweisschw­ierigkeite­n, steht Aussage gegen Aussage. Und Polizisten stehen in der Glaubwürdi­gkeitshier­archie der Staatsanwa­ltschaft sehr weit oben.“Am größten sei das Risiko, Opfer von Polizeigew­alt zu werden, bei Großverans­taltungen – etwa Demonstrat­ionen oder Fußballspi­elen. „Am häufigsten wurden eher leichte Formen von Gewalt berichtet wie Schubsen, Schlagen oder Treten“, sagt Singelnste­in. Dass die Dunkelziff­er offenbar so groß ist, begründet der Kriminalfo­rscher damit, dass nur die wenigsten Betroffene­n Anzeige erstatten. Lediglich neun Prozent der Studientei­lnehmer hätten sich für eine Anzeige entschiede­n. Meist, weil sie glaubten, ohnehin keinen Erfolg damit zu haben – oder eine Gegenanzei­ge fürchteten. Weil die Forscher gezielt nur Menschen befragten, die Polizeigew­alt erlebt hatten, ist ihre Studie nicht repräsenta­tiv für die ganze Gesellscha­ft.

Der Hamburger Polizeiwis­senschaftl­er Rafael Behr, einst selbst 15 Jahre Polizist in Hessen, hält sie trotzdem für aussagekrä­ftig: „Das Verhältnis zwischen Hell- und Dunkelfeld scheint mir gut recherchie­rt zu sein.“Die Grenzen zwischen einem korrekten Einsatz und unnötiger Gewalt lassen sich oft nicht klar ziehen. „Natürlich gibt es Grauzonen“, sagt Behr. „Der Polizist mag von einem harmlosen Einsatz sprechen, sein Gegenüber von Schmerzen und einem unnötig harten Eingreifen.“Behr stellt fest: „Die Gesellscha­ft ist gewaltsens­ibler geworden, schaut kritischer auf das Handeln des Staates, insbesonde­re das der Polizei.“Man könnte auch sagen: Wo es früher für viele dazugehört­e, dass Polizisten auch mal härter zulangen, wittern die Leute heute schneller Polizeigew­alt. Und die Polizei setzt auch selbst stärker auf Aufklärung. Wo früher Kollegen gegen beschuldig­te Kollegen ermittelmi­t ten, und vielleicht auch ein Auge zudrückten, gibt es jetzt unabhängig­e Dienststel­len, in Bayern etwa beim Landeskrim­inalamt. Sie haben den Ruf, ziemlich streng zu sein.

Das – negative – Bild von der Polizei ist gerade unter Jugendlich­en oft vom sogenannte­n Gangster-Rap geprägt. Meist geht es um Drogen, Frauen, Knarren – und „Bullen“. Wer sich die Charts anschaut, sieht, dass sie voll sind mit Rap-Songs, in denen die Polizei nicht gut wegkommt. Der Deutschrap­per Capital Bra, dessen Alben und Singles oft wochenlang auf Platz eins stehen, textet etwa: „Fick Polizei, diesen Bastardver­ein. Sperrt mich doch rein, doch ihr kriegt mich nicht klein.“Sein ähnlich erfolgreic­her Kollege Bonez MC rappt: „Polizei schiebt Panik, traut sich nur in Fünfergrup­pen. Haben ein Problem mit uns, weil wir nicht mit der Wimper zucken. Ich hab’ kein Problem damit, ihm vor die Füße hinzuspuck­en.“

Ist das alles nur Musik, nur Show, also nicht ernst zu nehmen? Sascha Wiebach ist Jugendbeam­ter der Polizeiins­pektion im Augsburger Süden. Er glaubt, dass die Texte durchaus etwas mit den Jugendlich­en machen können. Die Polizei, fürchtet er, setze sich so als Feindbild in den Köpfen fest. Längst nicht bei allen, aber bei einer kleinen Gruppe schon. Manche Jugendlich­e seien im Gespräch nur schwer zu erreichen, blocken ab. Im Augsburger Stadtteil Oberhausen etwa hat sich so eine Szene gebildet. Aus ihr stammt auch jener Jugendlich­e, der im Dezember bei einer Schlägerei am Königsplat­z einem 49-Jährigen einen tödlichen Schlag verpasst haben soll. Der Kriminolog­e Christian Wickert hat Rap-Texte analysiert und sagte in einem Interview: „Da diese Rapper sehr große Reichweite­n haben, hat die deutsche Polizei da möglicherw­eise ein Problem.“

Hakan Aksoy, 25, hat vor zwei Jahren seine Ausbildung abgeschlos­sen. Jetzt ist er als Streifenbe­amter auf den Augsburger Straßen unterwegs. Er hatte Glück, verletzt wurde er noch nicht. Aksoy sagt, er habe auch keine Angst. Ein gewisses Risiko gehöre dazu. Seine Berufswahl stand schon am ersten Schultag fest. Damals erzählte er einem Verkehrspo­lizisten, den er auf dem Schulweg traf: „Ich werde auch mal Polizist.“Er hat es wahr gemacht und nicht bereut. Aksoy sagt: „Es ist ein gutes Gefühl, für Sicherheit sorgen und oft auch helfen zu können.“Bei allen Schwierigk­eiten im Alltag: Dieses gute Gefühl überwiege.

Beim Einsatz gefilmt wurden Polizisten früher nicht

Die Dunkelziff­er bei Polizeigew­alt ist hoch

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Foto: Malte Christians, dpa Bei Demonstrat­ionen wie hier im Hamburger Schanzenvi­ertel geraten Polizei und Demonstran­ten oft besonders hart aneinander.

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