Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie die Medizin Frauen vergessen hat
Ärzte haben viel zu lange nur den Mann als Standardpatienten im Blick gehabt. So wird bis heute vielfach diagnostiziert und therapiert. Warum das tödliche Folgen haben kann
Frauen und Männer sind nicht gleich. Das ist eigentlich nichts Neues – und doch eine Tatsache, die die Medizin lange Zeit ignoriert hat. Und zum Teil immer noch ignoriert. Besonders dramatisch – gar lebensgefährlich – kann das bei Herzinfarkten werden. Denn die Symptome, die Männer und Frauen haben, können sehr unterschiedlich sein. Die Folge: Bei Frauen wird ein Herzinfarkt oft zu spät als solcher erkannt. Bei Männern hingegen ist die Situation oft sofort klar.
Dass Daten über Frauen bei wissenschaftlichen Untersuchungen oft nicht mit erhoben oder getrennt ausgewiesen werden, hat die britische Autorin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ausführlich beschrieben. Sie zeigt zum Beispiel, dass Smartphones so gestaltet sind, dass sie perfekt in Männerhände passen – für Frauenhände aber oft zu groß sind. Oder sie beschreibt anhand der schwedischen Stadt Karlskoga, dass die Organisation des Winterdienstes in einer Stadt eher an die Bedürfnisse von Männern angepasst ist als an jene von Frauen. Denn Männer fahren morgens häufiger mit dem Auto – und Straßen werden meist als Erstes geräumt. Frauen gehen hingegen oft zu Fuß oder nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel. Doch Fußwege oder Seitenstraßen haben beim Winterdienst keine Priorität. Die Folge: In Karlskoga kamen im Winter vor allem Frauen nach Unfällen ins Krankenhaus. Als die Stadt ihren Winterdienst umstellte und Gehwege zuerst freiräumte, sank auch die Zahl der Frauen, die im Winter nach Unfällen ins Krankenhaus kamen.
Das Bewusstsein für dieses Thema sickere – in der Medizin – erst langsam durch, sagt Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. In jüngster Zeit sei sie zwar immer wieder zu Vorträgen über die Gendermedizin – so lautet der Fachbegriff für die Forschungsrichtung der Medizin, die sich mit den Unterschieden von Männern und Frauen befasst – eingeladen worden. „Aber wenn ich dann ins Publikum blicke, sitzen dort vor allem Frauen“, erzählt sie. Auch während des Medizinstudiums spielt das Thema wohl eine untergeordnete Rolle. Nur ein Viertel der Befragten gab an, dass Seminare oder Workshops zur Gendermedizin auf ihrem Lehrplan standen.
Doch wie wichtig das Thema ist, wird eben am Herzinfarkt klar. Die häufigsten Symptome eines Herzinfarkts bei Männern und bei Frauen sind Schmerzen, ein Druckgefühl oder Unwohlsein im Brustraum. Bei Frauen kommen aber noch andere Symptome hinzu: Unwohlsein in Nacken, Kiefer, Schultern, oberem
Rücken oder Bauch, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen, Schwitzen, Benommenheit und Schwindel oder unerklärliche Müdigkeit. Wenn Frauen mit solchen Beschwerden zum Arzt kommen, erkennt der oft nicht sofort, um was es sich handelt. Viele Frauen nehmen ihre Beschwerden selbst gar nicht so ernst, weil sie nicht wissen, dass es sich dabei um Symptome eines Herzinfarkts handeln könnte.
Das Gleiche lässt sich übrigens auch in die andere Richtung beobachten, sagt Christiane Groß. Haben Männer eine Depression, kommen sie mit meist völlig anderen
Beschwerden in ihre Praxis als Frauen. Sie klagen zum Beispiel häufig über Schmerzen oder haben ein Suchtproblem. „Die klassischen Symptome, die man für eine Depression kennt, sind Symptome, die Frauen haben“, sagt Groß. Die Folge: Depressionen werden bei Männern weniger erkannt. Ähnlich ist das mit Brustkrebs oder Osteoporose – weil sie als typische Frauenkrankheiten gelten.
Und für die Pharmakologie – also die Lehre davon, wie Medikamente wirken – gibt es auch viel Diskussionsbedarf. „Frauen sind kleiner, haben einen anderen Stoffwechsel, sie haben unter anderem eine andere Verteilung des Körperfetts, einen anderen Hormonhaushalt und eine andere Muskelmasse als Männer“, sagt Groß. „Natürlich wirken Medikamente bei ihnen anders.“Doch lange galt der 27-jährige, gesunde Mann als der Norm-Körper für Medikamentenstudien und gilt es zum Teil bis heute.
„Das kommt auch daher, dass man nach dem Contergan-Skandal Anfang der 60er Jahre Frauen von Medikamenten-Tests ausgeschlossen hat“, sagt Groß. Schließlich wusste man nicht, wie sich unerforschte Arzneimittel auf ungeborene Babys auswirken, und wollte Schäden vermeiden.
Zwar gebe es inzwischen Fortschritte, was das Thema anbelangt. Doch solange sich überwiegend Ärztinnen für das Thema interessieren, die meisten Führungspositionen und Lehrstühle aber mit Männern besetzt seien, fürchtet Groß, dass die Gendermedizin nicht die nötige Aufmerksamkeit bekommt. Es gebe in Deutschland bisher nur einen Lehrstuhl, der sich mit dem Thema befasst – an der Charité in Berlin. Ein zweiter an der Uni in Bielefeld wird gerade eingerichtet. „Aber ich habe die Hoffnung, dass Corona der Gendermedizin Aufmerksamkeit bringt“, sagt Groß. „Denn die ersten Ergebnisse deuten ja darauf hin, dass Männer häufiger betroffen sind als Frauen. Das könnte die Männer insgesamt für die Gendermedizin etwas mehr sensibilisieren.“