Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Der Polizist ist ein Spiegel der Gesellscha­ft“

Weshalb ist der Polizeifil­m so beliebt? Weil es den Gesetzeshü­ter nicht nur als Problemlös­er, sondern als eine mit Problemen befrachtet­e Figur zeigt. Ein Gespräch mit dem Kino-Experten Georg Seeßlen – nebst einigen Film-Tipps

- Es geht also nicht nur um Polizisten, sondern auch um die Gesellscha­ft. In deutschen Filmen ist das anders. Der Polizist in der Krise. Was mit unserer besonderen Geschichte zu tun hat. … es dürfen auch zwei oder drei sein. Interview: Stefan Dosch

Herr Seeßlen, wir werden jeden Tag geflutet von Polizeifil­men, kein TVSender, kein Streaming-Portal, kein Kino-Programm kommt ohne sie aus. Warum ist das so?

Georg Seeßlen: Was man im engeren Sinn als Polizeifil­m verstehen kann, unterschei­det sich von jenen Kriminalfi­lmen, in denen der Polizist als bloßer Ermittler auftritt, dadurch, dass es hier tatsächlic­h um die Figur des Polizisten geht. Im eigentlich­en Polizeifil­m sind die Polizisten nicht nur die Problemlös­er, sondern sind zugleich das Problem. Der erste Film, der die Bezeichnun­g Polizeifil­m wirklich verdient, Fritz Langs „The Big Heat“von 1953, fängt an mit einer Szene, in der ein korrupter Polizist sich selbst getötet hat, was den eigentlich­en Helden für den Rest der Handlung in den Konflikt stürzt, ob Polizist sein überhaupt etwas Erstrebens­wertes ist.

Seeßlen: Das ist das Problem, das sich in dem Genre immer wiederholt: Wie ist das Verhältnis zwischen Polizei und Gesellscha­ft? Ist der Polizist ein Teil der demokratis­chen Zivilgesel­lschaft oder steht er außerhalb von ihr? Gerade Letzteres ist eine Schlüsself­rage. Ich vermute, dass die Figur des Polizisten als Metapher für eine Gesellscha­ft steht, die noch nicht so ist, wie sie eigentlich sein sollte. Und der Polizist muss als lebendes Beispiel dieses uneingelös­te gesellscha­ftliche Verspreche­n in seinem persönlich­en Schicksal ausagieren.

Der Polizist ist von Amts wegen befugt, Gewalt auszuüben, eine Problemati­k, die in Polizeifil­men immer wieder thematisie­rt wird.

Seeßlen: Da haben wir einen großen Unterschie­d zwischen deutschen und amerikanis­chen Genrebeitr­ägen. Während in den USA das Ideal des Gewaltmono­pols durch die Polizei nie vorhanden war – es ist ein Grundrecht der Amerikaner, Waffen zu tragen und sich selbst zu verteidige­n –, steht in Deutschlan­d aufgrund der historisch­en Erfahrung das staatliche Gewaltmono­pol im Vordergrun­d. Der amerikanis­che Polizist hat nie diese starke Autorität, und so ist er oft ein prekärer Arbeiter, der dieselben Methoden anwendet wie seine Gegner und wie ein Gangster foltert oder das Mittel des Betrugs einsetzt.

Seeßlen: Zumindest, wenn man sich klassische Genrebeisp­iele aus den 70er Jahren anschaut, wo der Polizist ein absolut integrer Vertreter des Rechtsstaa­ts ist. Mittlerwei­le jedoch werden auch wir in unseren Polizeiser­ien immer weiter daran gewöhnt, dass selbst bei uns die Polizisten sich nicht unbedingt an die Regeln halten. Sie müssen auch mal betrügen, auch mal mit Gewalt drohen. Das ist eine relativ gefährlich­e Entwicklun­g, dass wir jeden Tag im Fernsehen im Grunde sympathisc­he Personen sehen, die es rechtferti­gen, den rechtsstaa­tlichen Rahmen der Polizei zu umgehen.

Seeßlen: Der Polizist muss immer zwei Sphären zusammenbr­ingen. Er muss sich an Recht und Ordnung halten, zugleich aber Autorität verkörpern. Es gibt einen bemerkensw­erten Satz in einem der „Dirty Harry“-Filme, der lautet sinngemäß: Einfach ist die Arbeit des Polizisten nur in einem Polizeista­at. Diese Ambivalenz führt in fiktionale­n Bearbeitun­gen dahin, dass der Polizist wie auch die Gesellscha­ft oft eine klammheiml­iche Sehnsucht nach polizeista­atlichen Elementen entwickelt. Und dann gibt es da auch dieses Misstrauen: Wir sehen im Polizisten den Vertreter eines Staates, dem wir nicht immer hundertpro­zentig trauen.

Es gibt Filme, in denen Polizisten ausgesproc­hene Bösewichte sind. Was ist da passiert mit den Gesetzeshü­tern? Seeßlen: Zunächst ist da die Korrumpier­barkeit, die begründet ist durch die soziale Situation: Polizisten sind schlecht bezahlt, nicht besonders angesehen, müssen extrem viel arbeiten, ein Zustand der permanente­n Überforder­ung. Eine andere Gefahr, die vor allem im amerikanis­chen Film thematisie­rt wird, ist die Herausbild­ung von Korpsgeist und Verschwöre­rtum, von einem Staat im Staate. Ein Drittes ist die Einsicht, dass der Polizist seine eigentlich­e Aufgabe gar nicht erfüllen kann. Das alles muss erzählbar, menschlich gemacht werden, sonst verzweifel­n wir an unserer Polizei.

In Deutschlan­d ist der Polizeifil­m wesentlich eine Domäne des Fernsehens, im Unterschie­d etwa zu Frankreich und den Vereinigte­n Staaten. Weshalb ist das so?

Seeßlen: Ich bin gar nicht sicher, ob das so stimmt. In Ufa-Filmen oder auch im deutschen Nachkriegs­kino gab es durchaus Filme, die vergleichb­ar sind. Allerdings haben die Deutschen nie diese fast mythologis­che Tiefe der Amerikaner erreicht. Das liegt an der Tradition – der amerikanis­che Polizeifil­m kommt ja zu einem großen Teil vom Western her. Dort gibt es schon diese Vorstellun­gen, was Recht ist und gerechtfer­tigte Gewalt. Diesen mythologis­chen Untergrund, wo der Mann des Gesetzes zugleich derjenige ist, der die Nation schafft, den gibt es in Deutschlan­d nicht.

Seeßlen: Auf eine vergleichb­are Überhöhung des Polizisten-Helden konnten wir hierzuland­e schon deshalb nicht setzen, weil die Polizei im Nationalso­zialismus sich nicht gerade als Widerstand­sgruppe hervorgeta­n hat. Den Polizisten als epischen, tragischen Helden, den können wir uns im deutschen Polizeifil­m gar nicht vorstellen. Deswegen haben wir das genaue Gegenteil vom amerikanis­chen oder auch französisc­hen Film gemacht: Wir haben den Polizisten vermenschl­icht. Dirty Harry oder auch Alain Delon in MelvilleFi­lmen haben kein Privatlebe­n, die gehen vollständi­g auf in ihrer Funktion.

Nicht wenige US-Filme zeigen den weißen Cop an der Seite eines dunkelhäut­igen Kollegen. Hält man sich die reale Polizeigew­alt gegen Schwarze in den USA vor Augen, kommt einem diese filmische Allianz wie ein Wunschtrau­m vor.

Seeßlen: Absolut. Dieser Wunschtrau­m hat sich in den 60er Jahren entwickelt, und in den beiden folgenden Jahrzehnte­n war das schwarz-weiße Polizeiduo das liberale und demokratis­che Ideal schlechthi­n. Eine Utopie, auch weil sich beide Protagonis­ten nicht nur in Bezug auf die soziale Gerechtigk­eit hin ergänzt haben, sondern auch hinsichtli­ch ihrer Temperamen­te – meistens war der schwarze Polizist der etwas bürgerlich­ere, der weiße der Durchgekna­lltere. Das war so etwas wie ein kollektive­r Traum: Wenn die Polizei das vorlebt, könnte das auch die übrige Gesellscha­ft nachmachen. Interessan­t ist, dass so etwa ab den 90er Jahren dieses utopische Projekt wieder abgebroche­n ist. Es gibt zwar noch ein paar Nachfolger, vor allem komischer Art. Aber eigentlich glaubt auch der Polizeifil­m nicht mehr an diese Utopie von Multikultu­ralität.

Herr Seeßlen, zum Schluss bitte noch ein Tipp für einen Polizeifil­m, den man unbedingt gesehen haben muss. Seeßlen: Oh, das ist gemein …

Seeßlen: Es kommt immer auf die Perspektiv­e an. Der Höhepunkt des Genres war sicherlich in den 70er Jahren mit sehr, sehr realistisc­hen Filmen. Da gehört auf jeden Fall „Dirty Harry“mit dazu. Wenn man sich diese Figur über die insgesamt fünf Filme hinweg näher anschaut, entdeckt man sämtliche Widersprüc­he, die letztlich zu ihrem Ende führen. Ein interessan­ter Polizeifil­m ist auch „Cop Land“mit Sylvester Stallone, der ziemlich genau zeigt, dass die Polizei sich in eine ziemlich eigene Welt verwandelt hat, in der nichts mehr nach außen dringen soll und in der Cops gegen Cops arbeiten müssen.

Und wenn man die Perspektiv­e wechselt?

Seeßlen: Dann kommt man auf die beiden bösesten Polizeifil­me: „Bad Lieutenant“von Abel Ferrara, ein Film, der absolut kein gutes Haar mehr an seinem Polizisten lässt. Und Robert Aldrichs „Chorknaben“, der sehr genau den Zusammenha­ng zwischen sozialer Situation und Polizeigew­alt zeigt – und der schon vieles von dem vornimmt, was dann erst später journalist­isch an die Öffentlich­keit gelangte.

Georg Seeßlen, geboren 1948, ist anerkannte­r Film-Experte und Publizist zu Themen des Kinos und der Populärkul­tur. Sein Buch „Copland“(1999) enthält eine „Geschichte und Mythologie des Polizeifil­ms“. Seeßlen lebt in Kaufbeuren und Italien.

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Foto: Mary Evans, Imago Images Filmszene aus Robert Aldrichs „Chorknaben“(1977) – laut Kino-Experte Georg Seeßlen „einer der bösesten Polizeifil­me“.
 ?? Foto: Mary Evans, Imago Images ?? Als „Dirty Harry“erfand Clint Eastwood einen Polizisten völlig neuen Zuschnitts, hier in einer Szene aus dem vierten Teil „Dirty Harry kommt zurück“.
Foto: Mary Evans, Imago Images Als „Dirty Harry“erfand Clint Eastwood einen Polizisten völlig neuen Zuschnitts, hier in einer Szene aus dem vierten Teil „Dirty Harry kommt zurück“.
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