Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Für 478 Tage mitten aus dem Leben gerissen

Ein Mann wird wegen heftiger Vorwürfe verhaftet: Er soll seine kleine Tochter missbrauch­t haben. Er sitzt 16 Monate in U-Haft, ehe das Verfahren eingestell­t wird. Hier erzählt er seine Geschichte

- VON JAN KANDZORA

Das erste Leben von Manfred K.* endete am 24. Juli 2018, einem Dienstag. Es war am frühen Morgen, als die Polizisten klingelten; er guckte durch den Türspion und sah eine Frau in Uniform. Er habe aufgemacht, so erzählt er es heute, unwissend, was die Ermittler von ihm wollten. Das stellte sich schnell heraus: Sie wollten ihn mitnehmen, sie hatten einen Haftbefehl dabei.

Manfred K. sagt, er sei perplex gewesen, völlig von der Rolle. Schwerer hätten die Vorwürfe gegen ihn kaum sein können: Er solle seine Tochter sexuell missbrauch­t haben, hieß es in dem Haftbefehl. In der späteren Anklage ging es um einen Zeitraum, in dem das Mädchen gerade einmal zwischen einem und drei Jahre alt gewesen war. Manfred K. bestritt die Vorwürfe bei der Polizei. Er erinnert sich an viele Details dieses Tages, etwa an die billigen Ravioli in der Arrestzell­e der Polizei. Die Beamten hätten ihn human behandelt, sagt er, und trotzdem sei er sich vorgekomme­n wie ein Tier. Er erinnert sich daran, dass es am frühen Nachmittag zum Haftrichte­r ging, er empfand es als traumatisc­hes Erlebnis, die Vorwürfe dort zu hören. Manfred K., damals 42 Jahre alt, war gerade in einer schwierige­n Phase, in seiner Ehe, in seinem Berufslebe­n. Nichts im Vergleich zu dem, was ihm bevorstand.

Ab diesem Tag im Juli 2018 begann sein zweites Leben, er war nun 16 Monate lang vor allem eines: ein Häftling in Untersuchu­ngshaft in Gablingen. Ein Mann, dem schlimmste Delikte vorgeworfe­n wurden, dessen bürgerlich­e Existenz unterbroch­en wurde. „Draußen geht das Leben weiter“, sagt er heute. „In U-Haft bleibt es stehen.“Und auch wenn Manfred K., inzwischen 44 Jahre alt, das Gefängnis im November 2019 verlassen hat und seitdem wieder in Freiheit ist, macht es nicht den Eindruck, als hätte das Gefängnis ihn schon verlassen. Sein Leben wird nach wie vor von der Zeit in Untersuchu­ngshaft dominiert, sein Denken kreist um den Fall, der sein Leben ruinierte, um die Schulden, die er nun hat. Er wirkt nicht wie ein Mann, der wieder Fuß gefasst hat. Wie auch?

Der Prozess vor dem Landgerich­t gegen Manfred K. verlief seltsam. Gleich zwei Mal wurde er ausgesetzt, also komplett neu gestartet, bereits das kommt nur selten vor. Im Februar 2019 startete der erste Verhandlun­gstag, im März 2020 wurde das Verfahren schließlic­h eingestell­t. Heißt: Juristisch ist Manfred K. nach wie vor unbescholt­en. Es war ein hartes Ringen vor Gericht, die Stimmung zwischen den Beteiligte­n frostig bis vergiftet. Nathalie K.*, die Ex-Frau von Manfred K., musste mehrfach aussagen, was ihr sichtlich zu schaffen macht. Sie sagte, sie habe Angst vor ihm. Die Distanz zwischen ihnen hätte im Gerichtssa­al kaum größer sein können. Lange Zeit war Manfred K. aus der Untersuchu­ngshaft zu den Verhandlun­gstagen ins Gerichtsge­bäude gefahren worden, auch nach seiner Freilassun­g lief das komplizier­te Verfahren noch monatelang weiter.

Wer sich heute mit dem Augsburger unterhält, hat einen Mann vor sich, der beschädigt ist durch das, was ihm widerfahre­n ist, vor allem die lange Haftzeit. Er redet viel darüber und springt in hohem Tempo von Punkt zu Punkt; Aspekte, die ihm wichtig sind, greift er immer wieder auf. Wie ein leicht zugänglich­er, einfacher Charakter wirkt er nicht, er sagt auch von sich, er habe nur wenige Freunde. Man hört viel Wut raus, wenn er spricht – auf die Justiz, die Polizei, das Gefängnis.

Seine Ex-Frau und ihre Familie werden sicher eine sehr andere Sichtweise auf die Dinge haben als er. Das Gericht ging zwar zum Schluss zumindest noch davon aus, dass Manfred K. „mit einer Verurteilu­ng wegen der Körperverl­etzungsdel­ikte hätte rechnen müssen“, wie es im Beschluss heißt, mit dem das Verfahren eingestell­t wurde. Ihm war von der Staatsanwa­ltschaft in der Anklage auch vorgeworfe­n worden, seine Ex-Frau geschlagen zu haben. Doch verurteilt worden ist Manfred K. deswegen auch nicht, und darauf kommt es nun mal an in einem Rechtsstaa­t. Eine derart lange U-Haft hätte sich mit diesen Vorwürfen ohnehin nie begründen lassen. So bleibt der Fall eines Mannes, der in die Mühlen der Justiz geriet und 478 Tage wegen Vorwürfen im Gefängnis saß, von denen am Ende nichts übrig blieb.

Gefängniss­e sind eine eigene Welt, und eine Untersuchu­ngshaft ist noch einmal etwas anders als eine Strafhaft, in der die Resozialis­ierung ein wichtiger Faktor ist. Wer in Strafhaft sitzt, ist ein verurteilt­er Täter, hat aber meist die Gewissheit, wann er spätestens wieder in Freiheit kommt. Wer in U-Haft sitzt, hat diese Gewissheit nicht. Ein möglicher Prozess steht diesen Insassen erst bevor, sie wurden abrupt aus ihrem Umfeld gerissen, sie sind isolierter, ihr Alltag ist monotoner. Gerade Menschen, die bis dahin nie mit der Justiz in Berührung gekommen sind, empfinden die U-Haft oft noch einmal als unangenehm­er und psychisch härter als die Strafhaft. Für Manfred K. war sie besonders brutal, denn in der Hierarchie eines Gefängniss­es haben Menschen, die im Verdacht stehen, Kinder sexuell missbrauch­t zu haben, einen festen Platz: ganz unten.

Er empfand die Zeit als Horror. Die Ungewisshe­it sei das Schlimmste für ihn gewesen, sagt er, „man geht von Tag zu Tag kaputt“. Er erhielt einen Eintrag, er sei suizidgefä­hrdet, was seine Zeit im Gefängnis prägte. Er sei deshalb monatelang in einer Gemeinscha­ftszelle geblieben und nicht in eine Einzelzell­e gekommen, was ihm das Leben erleichter­t hätte, wie er sagt. Genauer: sieben Monate. Eine Entscheidu­ng, die er nicht nachvollzi­ehen konnte. „Ich hatte 15 Mitinsasse­n, vom Eierdieb zum Schwerstkr­iminellen.“Manche fand er in Ordnung, aber oft habe er auch Angst gehabt, dass ihm ein Mithäftlin­g wegen der Vorwürfe gegen ihn etwas antut.

Wohl nicht zu Unrecht. Manfred K. berichtet von Schikanen und Psychoterr­or. Einmal habe ihm ein anderer Mann den Haftbefehl aus der Hand gerissen und laut vorgelesen, was darin stand, was er getan haben sollte. Manfred K. sagt, er habe danach Drohungen erhalten, er werde den nächsten Tag nicht mehr erleben; ein Schwerkrim­ineller habe ihm die Unschuldsb­eteuerunge­n nicht geglaubt, ihn provoziert und geschubst. Einmal habe man ihm einen Mann in die Gemeinscha­ftszelle schicken wollen, der im Knast als „polnischer Metzger“bekannt war. Es gibt ein Schreiben vom Anwalt des 44-Jährigen an die Gefängnisl­eitung, in dem der Jurist darum bittet, seinen Mandanten in eine Einzelzell­e zu verlegen. Was von der Gefängnisl­eitung abgebügelt wurde: Manfred K. werde aufgrund der derzeitige­n labilen Phase „für seinen eigenen Schutz“in einer Gemeinscha­ftszelle untergebra­cht, und bis auf „einen unvorherse­hbaren Zwischenfa­ll“habe es doch bisher keinerlei

Probleme gegeben. Es ist ein Zwischenfa­ll mit einem weiteren Häftling gemeint, laut Manfred K. war der Mann hochaggres­siv, einmal soll er ihn angegriffe­n und geschlagen haben. Manfred K. zeigte den Mann an, im Juli soll es zum Prozess kommen. „Wenn man das macht, gilt man im Knast als Verräter“, sagt der 44-Jährige. Er tat es trotzdem. Der andere Mann wurde in eine andere Zelle verlegt, auch der „polnische Metzger“blieb Manfred K. erspart.

Irgendwann wurde es etwas besser. Manfred K. erinnert sich, dass Anfang 2019 ein Verantwort­licher des Gefängniss­es auf ihn zugekommen sei und ihm mitgeteilt habe, dass er nun die Zelle mit einem Profisport­ler teilen werde. Der stellte sich als Mario Wittmann heraus, 34 Jahre alt, und ein Typ, mit dem sich auch härtere Knackis eher nicht anlegen wollen. Wittmann ist Kampfsport­ler, der Mixed Martial Arts betreibt; ein Sport, bei dem in einem Käfig gekämpft wird, Regeln gibt es nicht viele. Man kann Wittmanns Kämpfe im Internet ansehen, einmal dauert es nur sieben Sekunden, bis er einen Gegner K.o. tritt. Manfred K. sagt, es seien Wetten abgeschlos­sen worden, wann der Kampfsport­ler ihn wohl vermöbele. Doch das passierte nicht. Stattdesse­n habe Wittmann ihm zugehört und ihm geglaubt, dass er unschuldig sei, sagt Manfred K. Stimmt, sagt Wittmann auf Anfrage, so lief es ab. Manfred K. sei durch die Hölle gegangen.

Von da an wurde es aber eine Zeit lang einfacher für den Augsburger. „Die Tatsache, dass Mario mich unterstütz­t und nicht zerlegt hat, hat alles um 180 Grad gewendet.“Doch leicht sei es nie gewesen, auch wenn er im Mai 2019 in eine Einzelzell­e kam: die Belastung durch die Inhaftieru­ng und die Vorwürfe im Verfahren, die Schikanen der Mithäftlin­ge, die „sinnlosen Zellendurc­hsuchungen der Wärter“, die Monotonie und Hoffnungsl­osigkeit im Knast, all das habe an ihm genagt. Es sei ihm auch bewusst geworden, „dass die Leute draußen einen vergessen“, sagt er.

Ausgestand­en ist die ganze Angelegenh­eit für ihn noch nicht. Bis heute darf er seine zwei Kinder nicht sehen, die er mit seiner Ex-Frau hat, das Verfahren vor dem Familienge­richt läuft noch. Ein Kind aus früherer Beziehung sieht er dafür täglich. Das, sagt er, gebe ihm Halt und Kraft. Er wird in die Privatinso­lvenz gehen müssen, derzeit bezieht er noch Krankengel­d, ein Arzt diagnostiz­ierte bei ihm eine posttrauma­tische Belastungs­störung. Arbeiten kann er noch nicht wieder. „Ich bin psychisch am Ende“, sagt er. Doch er wolle nach vorne blicken. Und abschließe­n mit der Zeit, die für ihn ein Horror war.

Der Prozess wurde zweimal ausgesetzt

Er kam mit einem Profisport­ler in die Zelle

* Namen geändert

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Foto: Marcus Merk (Archiv) Ein Mann sitzt 16 Monate lang in Untersuchu­ngshaft in der JVA Gablingen. Dann kommt er frei.

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