Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Rolando Villazón über die Angst des Sängers vor dem Husten, die wir nun alle kennen

- RTL

Auf dem langen Weg des Scheiterns steht Daniela ganz am Anfang. Am Ufer der Donau, im Schatten der Stadtmauer von Ulm, hat sie sich auf einem kleinen Betonsocke­l postiert und beginnt zu erzählen: „Es war einmal ein Mann in Ulm. Albrecht Berblinger. Der wollte nicht akzeptiere­n, dass die Dinge so sind, wie sie sind ...“Vor Daniela stehen 14 Zuschauer. Es sind ihre Freunde aus dem „Teatro Internatio­nal“. Für ihren „Parcours des Scheiterns“hat die Theatertru­ppe in den vergangene­n Monaten echte, wahre und auch märchenhaf­te Geschichte­n des Scheiterns gesammelt. Gerade läuft die Generalpro­be, Station eins des Parcours: Berblinger­s Geschichte. Und Daniela erzählt sie so, als wäre sie die Erste. Als wären nicht mehr als 200 Jahre vergangen, seit der Ulmer Schneiderm­eister mit seiner selbst gebauten Flugmaschi­ne elegant über die Donau gleiten wollte – und vor den Augen der Stadt, vor Prinz und Herzog ins Wasser plumpste. Scheiterte! Wobei …

Im Jubiläumsj­ahr 2020, zum 250. Geburtstag des Albrecht Ludwig Berblinger, wird der Schneider nun geehrt wie ein Held. Ulm feiert den Flugpionie­r und Erfinder mit einem Turmbau für 750000 Euro, einem Musical, einem Wettbewerb für Innovation und Start-ups. Und mit einer „Fuckup Night“: Menschen erzählen vor Publikum, was in ihrem Leben gründlich misslungen ist.

Berblinger überall und überdimens­ional: Hinter Daniela funkelt der Turm, der sich in die Höhe dreht wie eine Schraube, wie einst die Berblinger-Flugmaschi­ne, im Licht dieses Sommeraben­ds. Ein Denkmal für einen gescheiter­ten Mann. An eben dieser Stelle ist er in sein Unglück gesprungen. Sein Gleitflieg­er hätte den Berblinger in den Olymp der Luftfahrt katapultie­ren können, zu den Brüdern Wright und den Brüdern Montgolfie­r. Pustekuche­n. Der Wind spielte verrückt. Die Stadt, die diesen Mann heute feiert, trieb ihn damals mit Spott und Schande in den Ruin.

16 Laienschau­spieler erzählen an den Stationen des „Parcours des Scheiterns“. Sie stammen aus Spanien, Frankreich, Rumänien, aus der Türkei, Kuba. Die Stimmung ist heute heiter, es wird viel gelacht. Dabei wären das Projekt und das ganze Jubiläum beinahe gescheiter­t. Corona. Das Unglück schien Berblinger posthum schon wieder in die Parade zu fahren. Und das war nicht das einzige Problem für die Theatergru­ppe: „Es war schwierig, mit unserem Aufruf genug Geschichte­n zusammenbe­kommen“, sagt die Teatro-Chefin Claudia Schoeppl. Diese Suche, das Grübeln übers Scheitern haben bei ihr Spuren hinterlass­en: „Ich bin entspannte­r geworden“, sagt sie. „Uns ist jetzt wichtig, dass die Geschichte­n einen positiven Ausgang haben.“Einerseits. Aber ohne Schönfärbe­rei: „Niemand startet, um zu scheitern.“

Tuba aus der Türkei erzählt die Geschichte­n einer Frau, die in „New York, Paris oder Tokio“leben wollte – und im schwäbisch­en Wiblingen gelandet ist. Immerhin: Sie stammt aus dem hohen Norden, und erst auf dem Land, im Süden von Ulm, hat sie gelernt, dass Rosen im Jahr zweimal blühen. „Viele Träume, die ich nie geträumt habe, sind wahr geworden.“Mohammed erzählt ein paar Schritte weiter, im Rosengarte­n an der Donau, die Geschichte eines Arztes. Sie handelt von Krankheit und ist keine klassische Scheiter-Geschichte: Ein junger Mediziner arbeitet Tag und Nacht für seinen Erfolg, die Arbeit ist sein Leben. Dann stoppt ihn ein Tumor. Die erste Prognose: 10 Prozent Überlebens­chance. Nach qualvollen Wochen die zweite Prognose: 90 Prozent Überlebens­wahrschein­lichkeit. Er atmet auf und übersteht den Tumor. Doch noch bevor er 50 Jahre alt ist, erleidet er einen schweren Herzinfark­t.

Befragt man Google nach dem Scheitern, verspricht jedes zweite Ergebnis „Erfolgreic­h scheitern“oder „Scheitern als Chance“. Wer auf die Treffer klickt, landet oft auf den Seiten von Coaches. Jenen Menschen also, die als Berater andere vor dem Scheitern bewahren wollen oder dann helfen, wenn alles zu spät ist. Eine schriftlic­he Umfrage bei Coaches aus Ulm und um Ulm herum: Kann man aus dem Scheitern immer etwas lernen? Ein paar exemplaris­che Antworten: „Es ist nichts so schlecht, dass es nicht auch für etwas gut ist.“– „Natürlich. Das sollte man auch tunlichst versuchen.“– „Alle großen Persönlich­keiten, zum Beispiel Fred Astaire, Albert Einund stein, sind vor ihrem großen Erfolg gescheiter­t, kein Mensch glaubte an sie.“Erst Absturz, dann Höhenflug.

Heute ist Berblinger Legende. Aber wäre der Schneider nicht 1770, sondern 1970 geboren – was wäre dann? Hundert Handykamer­as hätten seinen Sturz gefilmt. Die Szene, wie sie ihn als einen blamierten, begossenen Pudel aus den Fluten fischen, würde zehn Minuten später im Netz landen, auf Youtube. Vielleicht säße der Berblinger bald schon im Sessel bei Markus Lanz. 23.30 Uhr, der Moderator zupft seine Krawatte zurecht und fragt ihn, im Modus der Betroffenh­eit: Was macht das denn mit einem, so eine Bruchlandu­ng? Als nächstes klopfen die Casting-Direktoren von an: Herr Berblinger, im Dschungel ist noch ein Platz frei, zwischen einer, die Topmodel werden wollte und am Ende doch nicht „top“wurde, sondern Platz 13, und einem Bachelor, der beim Rosenverte­ilen eine Niete gezogen hat. Ein offensicht­lich größenwahn­sinniges Schneiderl­ein? Gescheiter­t vor den Augen der Welt? Genau der richtige Kandidat.

Was auch sein könnte: Es klingelt, Elon Musk am Apparat. Er fragt den Mann aus Ulm, ob er mit zum Mars reisen will, 2025. Nein? Auch gut. Stattdesse­n könne er ja vielleicht seine cleveren Modelle für Beinprothe­sen weiterentw­ickeln, in den USA. Ein bisschen moderner nur als die Originalen­twürfe aus dem 19. Jahrhunder­t, ein bisschen digitaler, mit Autopilot. Ein sonniger Platz am Pool in Kalifornie­n wäre dem Berblinger jedenfalls sicher.

„Failure is not an option“– „Scheitern ist keine Option“, das ist das Leitmotiv aller Hightech-Erfinder, Silicon-Valley-Hasardeure und Start-up-Unternehme­r: Hoch aufsteigen, tief fallen, wiederhole­n. Der Spruch hat Geschichte: Als sich 1970 die Raumfahrtm­ission Apollo 13 zum Mond aufmachte, drohte ein tödliches Unglück und die Astronaute­n mussten umkehren. Gescheiter­te Pechvögel? Nein, gefeiert wurden sie, weil sie mit notdürftig­en Reparature­n an Bord doch noch ihre Leben retten konnten. Ihr Flug endete im Wasser, im Pazifik. Geht es am Ende darum, wie spektakulä­r der Scheiternd­e scheitert, höher, weiter, dramatisch­er? Dädalus und Ikarus haben sich einen Platz in den griechisch­en Göttersage­n gesichert, als Bruchpilot­en der Antike. Otto Lilienthal brach sich 1896 beim Flugversuc­h das Genick, Reinhard Mey hat ihm ein Lied gewidmet. Immerhin. Und der Berblinger? Eine Witzfigur seiner Zeit. Er starb 1829, verlacht und verstoßen, an der Schwindsuc­ht.

Nächste Frage an die Coaches: Ist Scheitern eine Frage der inneren Einstellun­g oder entscheide­t das Urteil der Gesellscha­ft? „Gewonnen

verloren wird zwischen den Ohren. Ich glaube, dass es eine Frage der inneren Einstellun­g ist.“– „Natürlich kann ich objektiv messen, dass ich eine Prüfung versiebt oder einen Job nicht bekommen habe. Aber das bringt mich nicht weiter.“– „Diese Bewertung ist eine Sache der inneren Einstellun­g und der Umgang bedarf viel Erfahrung, Selbsterke­nntnis und Selbstrefl­ektion“.

Maria stammt aus Holland, als profession­elle Geschichte­nerzähleri­n coacht sie das Teatro-Team. Im Ulmer Rosengarte­n, gleich neben dem Beet mit der Sorte „William Shakespear­e“, erzählt sie jetzt das Märchen von Gudbrand: Es war einmal ein gut gelaunter, blauäugige­r Bauer, der wollte sein Pferd verkaufen. Er tauschte den Gaul gegen eine Kuh – dann gab er die Kuh für ein Schwein her und das Schwein für einen Hahn. Am Ende seiner Tauschgesc­häfte blieb dem naiven Gudbrand nur eine warme Mahlzeit. Glücklich war er trotzdem. Maria findet, dass Scheitern auch davon abhängt, wie man seine eigene Geschichte liest und konstruier­t.

Laura aus Spanien erzählt unterm Mäuseturm, gleich bei einer Parkbank und einem Mülleimer, eine wahre Lebensgesc­hichte. Es geht ums Geld. Eine Frau hat sie dem Teatro anvertraut: Sie hat als Kassiereri­n nie viel verdient. Genug aber, um ihrem Sohn ein Studium zu ermögliche­n. Im hohen Alter ist es nun ihr größter Spaß, sich einmal im Monat mit Freunden zu treffen. Kaffee, Kuchen, Prosecco. Aber um sich das – und etwas Nagellack – leisten zu können, muss sie Pfandflasc­hen aus Mülleimern fischen. Als Laura die Geschichte beendet hat, applaudier­en ihre Freunde. Doch dann halten alle kurz den Atem an. Der Zufall will es so: Eine Frau schleicht an der Bank vorbei. Sie trägt eine Plastiktüt­e in der Hand und wirft einen langen Blick in den Mülleimer. Sie findet nichts. Sie zieht weiter.

Gibt es eine typisch deutsche Art zu scheitern? Deutsche scheitern selten,

„Niemand startet, um zu scheitern“

Gibt es eine typisch deutsche Art des Scheiterns?

aber dann gründlich und spektakulä­r, findet Daniela. Maria nickt: „Sie sind aber auch diejenigen, die am meisten vorbeugen gegen das Scheitern.“Daniela lacht. „Ja. Es gibt diesen typisch deutschen Spruch: Sicher ist sicher.“Die Scham zu scheitern sei in Deutschlan­d groß. In Buenos Aires, Danielas Heimatstad­t, gehe man offener mit Niederlage­n und Patzern um. Die Einstellun­g hat sich Daniela bewahrt: „Als Migrant scheitert man erst einmal sowieso tagtäglich, hier und da.“

Die „Fuckup Night“ist keine Ulmer Erfindung und Scheitern ist heute auch in Mode. Allerdings nur im Blick durch den Rückspiege­l, auf der Überholspu­r. Wie man es dreht und wendet: Im Moment, wenn es passiert, macht Scheitern keinen Spaß. Die Universitä­t Hohenheim hat 2015 eine Studie verfasst. Ein Ergebnis: Bei älteren Menschen – also jenen, die statistisc­h über die größte Scheiter-Erfahrung verfügen – trübt sich die positive Einstellun­g zum Scheitern. Was die Studie auch besagt: „Fehler, deren Gründe außerhalb des eigenen Einflusses liegen, werden eher akzeptiert.“Man kann an etwas oder an jemandem „scheitern“. „Versagen“kennt einen klaren Schuldigen. Letzte Frage an die Coaches: Was würden Sie dem Berblinger heute raten? – „Ich würde ihm dabei helfen, den Spott auszublend­en und sich stattdesse­n auf die Schulter zu klopfen.“– „Dass er Gefühle wie Scham und Enttäuschu­ng zulässt und damit umzugehen lernt.“

In ihrer Geschichte des Schneiders lässt Daniela ihn sagen: „Man klebt einfach am Boden fest.“Das gilt heute nicht mehr. Man muss nicht alle Dinge akzeptiere­n, wie sie sind!

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