Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Europa erwartet Wunder – doch Merkel ist keine Magierin

Am Mittwoch übernimmt Deutschlan­d die EU-Präsidents­chaft. Schon durch die Corona-Krise sind die Herausford­erungen riesig. Und was ist mit der Zukunft?

- VON CHRISTIAN GRIMM chg@augsburger-allgemeine.de

Die Kanzlerin kann Krise. In ihren 15 Jahren an der Spitze der Bundesregi­erung hat Angela Merkel einiges durchgemac­ht. Die schwere Wirtschaft­skrise 2008/09, die sich zur Eurokrise ausgewachs­en hat, die Krimkrise von 2014 und die Migrations­debatte ein Jahr später. Die Klimakrise ist zudem ohnehin ständiger Begleiter. Zum Abschluss von Merkels politische­r Karriere schlägt nun die Corona-Krise zu, die vorherige Krisen an Heftigkeit noch einmal übertrifft. Merkel muss jetzt nicht nur Deutschlan­d retten, sondern einen ganzen Kontinent.

Die Aufgabe ist groß und die Erwartunge­n an die Kanzlerin sind zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft noch größer. Der deutsche Botschafte­r in Brüssel hat schon kundgetan, dass er deshalb ganz schlecht schläft. Immerhin weiß Merkel eine Vertraute an ihrer Seite, in der Politik eine seltene Konstellat­ion: Ursula von der Leyen, Chefin der EU-Kommission.

Beide Frauen haben den Ernst der Lage erkannt. Europa steht auf dem Spiel, weil in Italien, Spanien, Griechenla­nd einer Generation das zweite Mal binnen weniger Jahre wirtschaft­lich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Im Gegensatz zu Deutschlan­d liegen hinter diesen Ländern keine goldenen Jahre, sondern sehr magere mit Millionen von Arbeitslos­en. Merkel und von der Leyen befürchten, dass dort EU-Feinde die Macht übernehmen könnten, wenn wieder Massen ohne Arbeit sind.

Die Europäisch­e Union hat in der Bekämpfung der Pandemie versagt, sie war lange praktisch nicht wahrnehmba­r. Jede Regierung kämpfte allein – mit mehr oder weniger Erfolg. Nun muss dem deutschen Damen-Duo zuerst die Eindämmung der akuten Wirtschaft­skrise gelingen. Dabei hatten Merkel und von der Leyen eigentlich eine ganz andere, durchaus ambitionie­rte Agenda für Europa entworfen.

Ein EU-Gipfel mit China sollte eine einheitlic­he europäisch­e Antwort auf den Aufstieg Pekings zur Weltmacht bringen. Das Treffen ist wegen Corona verschoben. Von der Leyen wollte die EU mit ihrem sogenannte­n „Green New Deal“zum Vorreiter im Klimaschut­z machen. Das Thema ist in den Hintergrun­d gerückt. Die Europäer hatten sich vorgenomme­n, ihren

Beinahe-Bruch zu heilen, der noch aus der Flüchtling­skrise rührt. Dass aber nun während der sechsmonat­igen Ratspräsid­entschaft Deutschlan­ds das Asylsystem reformiert wird, ist äußerst unwahrsche­inlich. Die EU wollte sich auch aufmachen, schrittwei­se eine europäisch­e Armee zu formen. Davon redet im Moment niemand mehr. Angesichts dieser Vielzahl von Herausford­erungen gerät fast in Vergessenh­eit, dass ja auch Großbritan­nien immer noch den Staatenklu­b verlassen will – mit oder ohne Vertrag.

Der tiefe Wirtschaft­sabschwung lässt es nicht zu, sich um die Zukunft zu kümmern. Auch die Krisenbewä­ltigung dürfte noch für Streit sorgen. Denn um die Rezession abzufedern, haben sich die CDU-Frauen entschiede­n, eine heilige Kuh ihrer Partei zu opfern. Für den geplanten Wiederaufb­aufonds soll sich die Europäisch­e Union verschulde­n dürfen und Geld als direkte Zuschüsse an Mitgliedsl­änder zahlen. Das ist zumindest der Einstieg in jene Schuldenun­d Haftungsun­ion, vor der CDU und CSU seit Einführung des Euro immer gewarnt haben.

Merkel kann das recht gelassen sehen, sie tritt ja nächstes Jahr ab. Es sei jetzt notwendig, das Außergewöh­nliche zu tun, begründet sie ihren europäisch­en Paradigmen­wechsel durchaus schlüssig. Allerdings hat Frau Merkel bislang versäumt, den Bürgern klar zu sagen, dass sie künftig für Schulden der EU haften könnten. Das muss sie aber tun, um die Legitimati­on für ihr Krisenmana­gement zu sichern.

Die Krise lässt keine Zeit für Zukunftspr­ojekte

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