Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Warum die Briten auf Deutschlan­d setzen

In London hofft man, dass Angela Merkel einen harten Brexit verhindert. Das könnte sich als Fehleinsch­ätzung erweisen. Die Kanzlerin hat andere Prioritäte­n

- VON KATRIN PRIBYL redaktion@augsburger-allgemeine.de

Vier Tage lang liefen die Gespräche, doch die Meinungsve­rschiedenh­eiten waren so gravierend, dass man den fünften Tag als sinnlos betrachtet­e und aussetzte. Die EU und Großbritan­nien haben ihre jüngste Verhandlun­gsrunde über ein Freihandel­sabkommen einen Tag früher als geplant beendet – und ohne Ergebnis. Wie gewohnt im seit Jahren laufenden Brexit-Drama schoben sich beide Seiten gegenseiti­g die Schuld zu. Würde die Zeit nicht drängen, könnte man die Machtspiel­chen als normalen Vorgang während bilaterale­r Verhandlun­gen abtun. Es ist üblich, dass beide Seiten zunächst lautstark die eigenen Positionen feststecke­n. Doch der Zeitrahmen ist so eng gestrickt, dass schon bald Kompromiss­e benötigt werden. Ende dieses Jahres läuft die Übergangsp­hase aus, in der Großbritan­nien

zumindest noch Mitglied des Binnenmark­ts ist und zur Zollunion gehört. Es droht ein harter Bruch – mit Zöllen und Kontrollen. Bislang scheint eine Einigung unmöglich, zumindest vordergrün­dig. Hinter den Kulissen klingen die Prognosen weitaus optimistis­cher. Bis zum Herbst, so mutmaßen Beobachter, könnte ein Deal tatsächlic­h stehen. Während es auf der Insel monatelang hieß, dass die britische Regierung mit einer Harakiri-Strategie einen ungeordnet­en EU-Austritt nicht nur in Kauf nehmen, sondern gar begrüßen würde, um die negativen Folgen des Brexits mit jenen der Coronaviru­sKrise zu kaschieren, scheint sich die Taktik in der Downing Street gewandelt zu haben. Mittlerwei­le wird davon ausgegange­n, dass der unter Druck stehende Premiermin­ister Boris Johnson, dem sein miserables Corona-Krisenmana­gement auf die Füße fällt, nicht auch noch ein No-Deal-Szenario riskieren kann – und deshalb bei einigen Punkten einknicken wird.

Brüssel will von London Zugeständn­isse bei den zentralen Streitthem­en

erreichen, wie etwa der Forderung der Europäisch­en Union nach gleichen Wettbewerb­sbedingung­en oder der Rolle des Europäisch­en Gerichtsho­fs bei möglichen Differenze­n.

Britische Europaskep­tiker setzen ausgerechn­et an Deutschlan­d hohe Erwartunge­n. Und das nicht nur, weil der für den Herbst erwartete Showdown zwischen Brüssel und

London in die EU-Ratspräsid­entschaft der Bundesrepu­blik fällt und das Brexit-Drama in den nächsten Monaten viel Zeit, Energie und politische Aufmerksam­keit aufsaugen wird. Die Deutschen, so der sich seit Jahren hartnäckig haltende Mythos auf der Insel, würden am Ende schon allein aus Eigeninter­esse Zugeständn­isse an Großbritan­nien machen und damit den Weg zu einem Deal ebnen. Berlin als Achillesfe­rse der EU? Es ist eine

Fehlwahrne­hmung, die Risiken birgt und die bei Brexit-Optimisten bislang vor allem für Enttäuschu­ng gesorgt hat. Weder die so oft zitierten deutschen Autoherste­ller sprangen den Briten zur Seite noch scherte Kanzlerin Angela Merkel aus der Reihe der 27 verblieben­en EU-Staaten aus. In London gründen sich die Hoffnungen nicht nur auf Merkels Ruf, bei Verhandlun­gen pragmatisc­h zu agieren, sondern auch auf den Glauben, dass die Bundesregi­erung aufgrund der exportorie­ntierten deutschen Wirtschaft unbedingt einen in ökonomisch­er Sicht ungeordnet­en Austritt verhindern will.

Doch trotz der Bedeutung des deutsch-britischen Handels und trotz Merkels jüngster Warnung vor einem Scheitern der Gespräche: Dass die Kanzlerin den Briten einen vorteilhaf­ten Deal bescheren wird, darf dann doch bezweifelt werden. Ihre Priorität, das hat Merkel stets deutlich gemacht, liegt zu Recht auf der Integrität des Binnenmark­ts. Extrawürst­e soll es nicht geben. Von denen aber träumen sie auf der Insel bis heute.

Johnson kann sich kein weiteres Desaster leisten

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