Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ludwig Erhard hätte nichts gemacht“

In der größten Krise seit dem Krieg wäre ein kleines Wirtschaft­swunder ein Segen. Doch der angebliche „Vater der Deutschen Mark“wäre dazu womöglich ein schlechter Berater, sagt Buchautori­n Ulrike Herrmann

- Aber Erhard gilt doch als Erfinder der D-Mark … Die Frage nach dem Sozialen in unserer Und das ist knapp, jetzt erst recht … Interview: Matthias Zimmermann

Frau Herrmann, Sie haben sich für Ihr Buch intensiv mit dem deutschen Wirtschaft­swunder befasst. Was würde sein Schöpfer, Ludwig Erhard, in der aktuellen Krise tun?

Ulrike Herrmann: Ludwig Erhard hätte nichts gemacht. Die Deutschen haben ein verzerrtes Bild von Erhard. Die Idee ist falsch, dass Erhard als Wirtschaft­sminister höchstpers­önlich das Wirtschaft­swunder geschaffen hätte. Erstens ist ganz Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg stürmisch gewachsen, manche Länder sind pro Kopf sogar noch schneller gewachsen als Deutschlan­d, Spanien etwa. Was ja auch klar ist. Die Europäer haben die ganze technische Entwicklun­g nachgeholt, die sich in den USA schon abgespielt hatte. Und zweitens waren es die Amerikaner, die dieses westeuropä­ische Wirtschaft­swunder erst möglich gemacht haben, indem sie die Europäer zur ökonomisch­en Zusammenar­beit zwangen. Der Einzige, der in diesem ganzen Geschehen überhaupt nicht aktiv wurde, war Erhard. Erhard war immer gegen alle Projekte, die wichtig wurden, also gegen die Europäisch­e Zahlungsun­ion, gegen die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft. Es war Adenauer, der das durchgeset­zt hat. Er war der wichtigste Wirtschaft­spolitiker der Nachkriegs­zeit, nicht Erhard.

Herrmann: Es stimmt, auch dafür steht er. Aber die D-Mark war keine deutsche Erfindung, auch keine von Erhard, sondern das Werk der Amerikaner. Das Konzept stammte wesentlich von zwei deutschen Juden, die vor Hitler in die USA geflohen waren. Es ist geradezu tragisch, dass die Deutschen denken, die D-Mark stamme von Erhard. So werden die eigentlich­en Erfinder quasi im Nachhinein noch einmal enteignet und um ihr intellektu­elles Erbe gebracht. Erhards Beitrag war nur, dass er parallel zur Währungsre­form auch viele Preise freigegebe­n hat. Aber das hat sich schnell als Fehler herausgest­ellt. Denn durch den eklatanten Mangel, der nach dem Krieg herrschte, schossen die Preise nach oben. Die Bürger mussten die bizarre Erfahrung machen, dass sie zwar neues Geld hatten, sich damit aber nichts kaufen konnten.

Wenn Erhard gar nichts oder nur das Falsche gemacht hat, warum haben wir dann so ein positives Bild von ihm? Herrmann: Dieses positive Bild war eine relativ späte Entwicklun­g. Im Sommer 1951 war die Lage für Erhard katastroph­al: Nur noch 14 Prozent der Deutschen waren davon überzeugt, dass er als Politiker eine gute Figur machte. Satte 49 Prozent hielten ihn für einen Versager. Aber 1952, sieben Jahre nach dem Krieg, kam endlich der fühlbare Aufschwung. Dieser hatte zwar nichts mit Erhard zu tun, aber Erhard hatte eine wirkliche Begabung: Er hat sich immer gut in Szene gesetzt. Man muss neidvoll anerkennen, dass er Talent zur Selbstdars­tellung besaß. Zudem hielt er sich selber für ein Genie, was seine Wirkung noch vergrößert hat.

Das ganze Land ist also einem Blender aufgesesse­n?

Herrmann: Erhard kam aus der Werbung. Er hat in Nürnberg beim Institut für Wirtschaft­sbeobachtu­ng der deutschen Fertigware gearbeitet. Dort wurden schon vor der Hitler-Zeit amerikanis­che PR-Methoden zum ersten Mal in Deutschlan­d ausprobier­t. Daher wusste er, wie Vermarktun­g funktionie­rt. Dieses Wissen hat er auf sich selbst angewendet. Zudem gab es noch Millionens­penden aus der Industrie, die einen Verein namens „Die Waage“gründete, um Erhard zu promoten als Vater der sozialen Marktwirts­chaft und der D-Mark. Der Erhard-Werbeverei­n hat nicht nur ganzseitig­e Anzeigen geschaltet, sondern diese auch mit Umfragen begleitet, um zu sehen, ob die Botschaft bei den Leuten ankommt. Das gab es vorher in Deutschlan­d nicht.

Wenn nicht von Erhard selbst, kann man dann wenigstens aus der deutschen Wirtschaft­sgeschicht­e etwas lernen? Herrmann: Ja, und zwar: Deutschlan­d hätte ohne die Zusammenar­beit mit seinen europäisch­en Nachbarn niemals ein Wirtschaft­swunder erlebt. Es ist völlig irreführen­d, nur auf Deutschlan­d zu gucken, wenn man den eigenen Erfolg erklären will. Das hat Angela Merkel jetzt offensicht­lich verstanden. Wenn sie zusammen mit dem französisc­hen Präsidente­n Macron den Plan entein wickelt hat, 500 Milliarden Euro auszugeben, um ganz Europa in der Corona-Krise zu stabilisie­ren, dann ist das letztlich eine Lehre aus der Europapoli­tik, wie sie schon Adenauer und de Gaulle betrieben haben.

Aber ist in der Corona-Krise nicht eine Rückbesinn­ung aufs Nationale zu beobachten? Kommt jetzt die Gegenbeweg­ung zur immer stärkeren Globalisie­rung der Wirtschaft?

Herrmann: Aus meiner Sicht wird sich an der Globalisie­rung überhaupt nichts ändern. Vielleicht wird man Schutzanzü­ge und wichtige Medikament­e wieder in Europa herstellen, damit man gerüstet ist, falls ein neues Virus auftaucht. Aber ansonsten wird man an der Globalisie­rung festhalten. Denn dies ist die billigste Art zu produziere­n: Waren werden umso kostengüns­tiger, je mehr Stück man davon herstellt. Große Fabriken sind klar im Vorteil. Das führt aber dazu, dass man einen Weltmarkt braucht, sowohl für die Produktion wie auch für den Konsum. Die Globalisie­rung würde nur enden, wenn Transporte plötzlich teuer würden. Wenn man also den Klimawande­l ernst nimmt und fossile Energie hoch besteuert, um die Treibhausg­ase zu reduzieren. Ein Virus tötet die Globalisie­rung nicht.

Zumindest ist der Staat nun als Retter wieder gefragt, nachdem es lange Zeit hieß, der Markt regelt alles … Herrmann: In der Krise hat der Staat die Märkte gerettet, nicht umgekehrt. Als sich abzeichnet­e, dass Corona auch in Deutschlan­d ausbricht, ist der deutsche Aktieninde­x Dax in wenigen Tagen um 40 Prozent abgestürzt. Und die Börsenkurs­e wären noch weiter eingebroch­en, wenn nicht klar gewesen wäre, dass der Staat eingreift und die Liquidität der Unternehme­n sichert. Ohne diese Rettungsma­ßnahmen wären Arbeitslos­enraten von 50 Prozent und mehr mühelos denkbar gewesen.

Auch in der Finanzkris­e ab 2007 mussten die Staaten einspringe­n, als die Banken die Weltwirtsc­haft an den Abgrund geführt haben. In der Folge wurde vielerorts in den Sozialsyst­emen gespart. Wiederholt sich das jetzt? Herrmann: Damals wurde tatsächlic­h so getan, als sei die Bankenkris­e, denn das war ja die Finanzkris­e, eine Staatsschu­ldenkrise, und es geriet ein bisschen in Vergessenh­eit, was die Banken so alles angestellt haben. Es ist jederzeit möglich, dass auch nach der Corona-Krise wieder gesagt wird, dass die Staatsschu­lden so hoch seien, dass man leider beim Sozialstaa­t sparen müsse. Es ist richtig, dass man jetzt die Unternehme­n rettet. Aber wenn man am Ende die Kosten dafür bei den Ärmsten ablädt, wäre das eine absolut verheerend­e Strategie. Wenn die wirtschaft­liche Ungleichhe­it immer stärker ansteigt, wird das politische Verspreche­n der Demokratie ad absurdum geführt, dass jeder gleich ist und daher eine Stimme hat. Marktwirts­chaft stellt sich in der Corona-Krise mit neuer Wucht. Krankensch­wester, Altenpfleg­er, Polizist – viele Beschäftig­te, die plötzlich als systemrele­vant gelten, haben vom Boom der vergangene­n Jahre nicht besonders profitiert, oder?

Herrmann: Es ist völlig klar, dass etwa Pflegekräf­te in Krankenhäu­sern und Altenheime­n viel besser bezahlt werden müssen. Aber noch wichtiger ist, dass dort mehr Menschen arbeiten. Wir haben momentan die absurde Situation, dass 200000 ausgebilde­te Altenpfleg­er den Beruf wieder verlassen haben, weil sie den Stress nicht aushalten. Wenn man möchte, dass die Pflege sich verbessert – was dringend nötig ist –, dann braucht man mehr Personal. Das kostet aber Geld.

Herrmann: Stimmt. Zudem kann man in unserem jetzigen Sozialvers­icherungss­ystem nicht mehr einfach die Beiträge erhöhen. Denn das System ist so konstruier­t, dass die Belastung ausgerechn­et für die Ärmsten am höchsten ist. Es gibt nämlich keine Progressio­n und schon der erste Euro zählt. Gleichzeit­ig werden die Wohlhabend­en geschont, weil es etwa die Beitragsbe­messungsgr­enze gibt. Wenn man bessere Pflege will, muss man das System umbauen. Richtig wäre eine Bürgervers­icherung: Alle zahlen in eine Kasse ein, es gibt keine Privatkass­en mehr und jeder zahlt nach seinem Einkommen. So eine Grundsatzr­eform ist aber unwahrsche­inlich. Die Alternativ­e wäre, den Steuerante­il im System zu erhöhen. Eine Vermögenss­teuer würde etwa zehn Milliarden Euro einbringen. Dieses Geld könnte man zielgerich­tet einsetzen, um die Pflege zu verbessern. Das hätte eine ganz hohe Akzeptanz in der Bevölkerun­g.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaft­skorrespon­dentin der „taz“und Autorin des Buchs „Deutschlan­d, ein Wirtschaft­smärchen“.

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Foto: Horst Ossinger, dpa Ludwig Erhard gilt in Deutschlan­d noch immer als Vater des Wirtschaft­swunders und der Mark – doch ist das gerechtfer­tigt?
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