Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Thalia ist das zweitältes­te Kino Deutschlan­ds

Seit 13. Juli 1907 werden am Obstmarkt in Augsburg Filme gezeigt. Lediglich ein Berliner Lichtspiel­theater ist vier Monate älter. Zuvor fasziniert­en Kinematogr­aphen die Menschen

- VON FRANZ HÄUSSLER

„Lebende Filmbilder“versetzten am 1. November 1895 zum ersten Mal in Deutschlan­d das Publikum in Begeisteru­ng. Das war im Berliner Großvariet­é „Wintergart­en“. Die „neue Art der Theatervor­stellung mit laufenden Bildern“fasziniert­e. 1896 wurde in Berlin der erste „Kinematogr­aph“eröffnet. Diese aus den griechisch­en Wörtern für „Bewegung“und „schreiben“gebildete Bezeichnun­g schrumpfte zum „Kino“, der deutsche Name war „Lichtspiel­theater“. Auch in Augsburg war man 1896 neugierig auf die „lebenden Bilder“. Am 16. Oktober 1896 war so weit: Im Café Merkur am Moritzplat­z fand die erste 15-minütige Kinematogr­aphie-Vorstellun­g statt.

In der Zeitung musste 1896 das noch unbekannte Bildermedi­um erklärt werden. Durch eine „ununterbro­chene Reihe von Schnell-Moment-Fotografie­n, welches Verfahren man Kinematogr­aphie nennt“, werde dem Zuschauer der Eindruck des „vollkommen­en Lebens“vermittelt. Mit dem Gastspiel begann im Oktober 1896 die Kinogeschi­chte in Augsburg. Es folgte die Epoche der Volksfest-Kinematogr­aphen. Im Oktober 1901 gastierte erstmals ein Kinematogr­aph bei der Lechhauser Kirchweih. Beim Osterplärr­er 1906 war ein Riesen-Kinematogr­aph eine Attraktion.

Augsburger Gastronome­n machten sich die Zugkraft von „lebenden Bildern“zunutze und veranstalt­eten „kinematogr­aphische Vorstellun­gen“in ihren Sälen, Cafés und Restaurant­s. Die Besucher saßen nicht in Stuhlreihe­n, um sich von Stummfilme­n fasziniere­n zu lassen, sondern an Tischen und ließen sich bewirten. Kino-Historiker erfanden dafür die Bezeichnun­g Verzehrkin­o.

Der Erfolg führte dazu, dauerhafte Lichtspiel­theater einzuricht­en. Die frühesten waren ebenfalls Verzehrkin­os – auch Augsburgs ältestes noch bespieltes Kino, das Thalia. Dessen Geschichte beginnt mit einer Kurzmeldun­g in der „Neuen Augsburger Zeitung“am 30. Juni 1907: „Der Kinematogr­aph Ecke Maxstraße/Judenberg zieht am 13. Juli 1907 ins Etablissem­ent National am Obstmarkt um. Er hat im National einen Fünf-Jahres-Mietvertra­g. Die Bewirtung läuft weiter.“Diese Meldung ist die Geburtsurk­unde des Thalia-Kinos am Obstmarkt.

Das Gebäude hatte 1905/06 der Augsburger Stararchit­ekt Jean Keller errichtet. Von ihm stammt das Kurhaus-Theater in Göggingen. Investor am Obstmarkt war der Lebensmitt­elhändler Fridolin Widmann. Er hatte das alte einstöckig­e Café National gekauft, es abbrechen und an selber Stelle einen fünfstöcki­gen Vielzweckb­au errichten lassen. Jean Keller nahm den „Neubau Café National, Obstmarkt Lit. D 71“mit Foto und Kurzbeschr­eibung in sein 1910 gedrucktes Werkverzei­chnis auf: „Im Erdgeschos­s Konzertsaa­l mit Galerie, Restaurant und Läden, im Zwischenge­schoss Café, in den oberen Stockwerke­n Wohnungen.“

Im November 1906 meldete der Hausbesitz­er Fridolin Widmann die Veranstalt­ung von Varieté an. Ein gutes halbes Jahr später änderte sich die Nutzung des Saals: Im Juli 1907 wurde daraus ein Kinematogr­aph, ein Lichtspiel­theater. „Kinematogr­aph“stand groß über dem SaalEingan­g am Obstmarkt zu lesen. Ab 1909 ist der Name Thalia-Theater nachweisba­r. Täglich von 14 bis 22.30 Uhr liefen ununterbro­chen Filme „bei Restaurati­on“. Das heißt: Es Speisen und Getränke serviert. Das Rauchen war ausdrückli­ch gestattet.

Zeitungsin­serate überliefer­n die Wochenprog­ramme im ThaliaThea­ter. In den Anzeigen von 1910 wird es als „Vornehmste­r Kinematogr­aph am Platze“sowie als „Größte Lichtproje­ktion Augsburgs“bezeichnet. Vom 3. bis 9. Juli 1910 wurden zehn Filme gezeigt. Einige Titel: „Sophia, herrliches Stadtbild“(Naturaufna­hme), „Der Zauberköni­g“(originelle­r Trickfilm), „Motorbootr­egatta in Monaco“, „Roland, der Paladin Karls des Großen“(dramatisch­er Kunstfilm).

Die Stummfilme waren im Thalia musikalisc­h begleitet. Ob es sich um Klavierbeg­leitung handelte oder die Musik aus einem Grammophon oder einem Musikautom­aten erklang, geht aus Inseraten nicht hervor. Film Nr. 9 mit dem Titel „Wirkung von Grammophon­musik auf wilde Tiere“lässt vermuten, dass die Untermalun­g von der Schellackp­latte kam. Die Tonfilmzei­t begann erst 1930.

Der Kinematogr­aph im ThaliaThea­ter bekam bereits am 1. Februar 1908 Konkurrenz: Der „Welt-Kinematogr­aph, Theater lebender Photograph­ien“wurde an der Maximilian­straße 7 eröffnet. Carl Gabriel’s

Lichtbildt­heater etablierte sich ebenfalls 1908 als drittes Kino an der Karolinens­traße. 1912 gab es in Augsburg vier Lichtspiel­theater mit insgesamt 1005 Plätzen.

1913 kamen die Kammerlich­tspiele Riedingerh­aus am Hohen Weg dazu. Dort steht jetzt das Stadtwerke­haus. Der Saal der Kammerlich­tspiele ist durch eine Postkarte als „Sehenswürd­igkeit allererste­n Ranges“überliefer­t. Das Foto zeigt eine Bestuhlung in Zwölferrei­hen. Es war bereits ein Kinosaal ohne Verzehr. Diesem Trend musste sich das Thalia anpassen. Ende 1913 gab es in Augsburg neun Lichtspiel­theater mit 2314 Plätzen, davon im Thalia 320. 1914 verzeichne­t die Statistik 514 386 Kinobesuch­er.

Thalia Lichtspiel­e hieß das Kino, als in der Bombennach­t im Februar 1944 das Kinogebäud­e Obstmarkt 5 zur Teilruine wurde. Am 18. Mai 1945 begann der Wiederaufb­au, im November 1946 lief der erste Nachkriegs­film. Während das Capitol und der Filmpalast bis 1949 von den Amerikaner­n beschlagna­hmt waren, boomte das wiederaufg­ebaute Thalia. 1950 wurde es von 320 auf 700 Plätze vergrößert und hieß nun Thalia-Palast. 1957 gab es in Augsburg 20 Kinos mit 9522 Plätzen. Sie verwurden zeichneten in diesem Jahr mit 3,25 Millionen die höchste je erreichte Besucherza­hl.

1960 setzte eine Spezialisi­erung ein: Zum Thalia-Palast kam Thalia Kleines Haus als Programmki­no. Die Retro-Welle führte zu kleineren Sälen. Ein Restaurant im gleichen Haus wurde zur Pflicht. Dieses Konzept verwirklic­hte Franz Fischer, seit 1999 Besitzer des Thalia: Zwei Kinosäle (200 und 120 Plätze) und acht Köche in der Küche des Restaurant­s verdeutlic­hen die Geschäftsi­dee. 2004 baute Franz Fischer einen Kinosaal mit Empore zu einem Kaffeehaus im Wiener Stil um.

Dass das Thalia zu den ältesten von der Gründung bis heute bespielten Kinos Deutschlan­ds zählt, war bekannt. Die jüngste Recherche ergab: Das Thalia ist das zweitältes­te. Nur das am 29. März 1907 eröffnete Moviemento in Berlin-Kreuzberg ist älter. Das drittältes­te noch aktive deutsche Kino ist drei Wochen jünger als das Thalia: Im Weltspiege­lKino in Mettmann lief der erste Film am 2. August 1907. Die Corona-Pandemie bedeutete für alle Kinos in Deutschlan­d eine monatelang­e Zwangspaus­e. Im Thalia endete sie am 18. Juni, im Moviemento in Berlin einen Tag später.

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Fotos: Sammlung Häußler Das von Stararchit­ekt Jean Keller erbaute Café National. Der Konzertsaa­l wandelte sich 1907 zum Thalia-Theater mit Kinematogr­aph.
 ??  ?? Die Fassade des 1945 wiederaufg­ebauten Thalia-Kinos am Obstmarkt ist heute ohne auffallend­e Kinowerbun­g.
Die Fassade des 1945 wiederaufg­ebauten Thalia-Kinos am Obstmarkt ist heute ohne auffallend­e Kinowerbun­g.
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 ??  ?? „Thalia“-Zeitungsin­serate aus den Jahren 1922 und 1956 (oben) erzählen frühe Filmgeschi­chte.
„Thalia“-Zeitungsin­serate aus den Jahren 1922 und 1956 (oben) erzählen frühe Filmgeschi­chte.

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