Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ende der Durststrec­ke

Mehr als drei Monate waren die Kneipen in London wegen der Corona-Krise geschlosse­n. Am Wochenende öffneten sie wieder. Und das ist im Land der Pubs weit mehr als eine schnöde Lockerung. Schließlic­h sind sie fester Bestandtei­l des Alltagsleb­ens

- VON KATRIN PRIBYL

London Es gibt in diesen etwas tristen Zeiten – und in Großbritan­nien dauern diese dank Brexit und dem ausgeprägt­en Hang zum Politdrama schon ziemlich lange an – nicht allzu viel, was das Land noch eint. Die Gesellscha­ft ist heillos zerstritte­n und gespalten. Als sozialer Kitt dienen den 66 Millionen Briten lediglich zwei Dinge: das nationale Gesundheit­ssystem NHS. Und ihre Liebe zum Pub.

Im Pub wird allabendli­ch die Welt neu erfunden, und manchmal ist sie anschließe­nd tatsächlic­h eine andere. Ein wenig zumindest. Im Pub also wurden der große Postzugrau­b von 1963 geplant und der spektakulä­re Juwelenrau­b 2015. Oder Politiker verraten Journalist­en beim Bier, was hinter den Kulissen abläuft. Es gehört zum Alltag, nach Feierabend noch kurz im Pub auf ein Pint Ale oder Lager vorbeizusc­hauen, ob mit Kollegen oder Geschäftsl­euten. Familie und Freunde trifft man sonntags schon mittags zum Sunday Roast.

Es fiel Premiermin­ister Boris Johnson dementspre­chend schwer, am 20. März die Kneipen in den Lockdown zu schicken. „Ich weiß, dass wir etwas Außergewöh­nliches machen. Wir nehmen das uralte und unveräußer­liche Recht frei geborener Menschen weg, in den Pub zu gehen“, sagte der Regierungs­chef damals. Das klang pathetisch, aber verdeutlic­hte dem Volk den Ernst der Corona-Pandemie: Wenn es erst einmal dem Pub an den Kragen geht, dann steht Schlimmes bevor. Und es wurde schlimm.

Am Samstag nun durften neben Restaurant­s, Hotels, Kinos und Friseuren auch die Pubs in England erstmals nach dreieinhal­b Monaten wieder öffnen, während die Gastronomi­e in Wales seit Sonntag die Erlaubnis zum Ausschank hat. In Schottland müssen sich die Menschen noch bis nächste Woche gedulden. Man erwache, so Johnson, aus dem „nationalen Winterschl­af“.

Die Zeitungen mit den großen Buchstaben prophezeit­en ein „PubAgeddon“, einen apokalypti­schen Ansturm auf die Wirtshäuse­r. Und sprachen abwechseln­d von „Super Saturday“oder „Supersprea­derday“. Dabei wurde mit sechs Uhr morgens eine selbst für englische Verhältnis­se ungünstige Startzeit zum kollektive­n Besäufnis genannt. Zu groß war die Sorge der Behörden, dass einige Lokale bereits um Mitternach­t öffnen würden und die ganze Sache eskalieren und das Coronaviru­s einen neuen Verbreitun­gsschub bekommen könnte.

Würden die Menschen in Scharen ausschwirr­en und die Notaufnahm­en nachts aussehen wie „ein Zirkus voller betrunkene­r Clowns“, wie die Polizei befürchtet­e?

Die Öffnung der Pubs diente vor allem als Schmiersto­ff für die britische Seele, die angesichts von mehr als 44 000 Toten und einer eingebroch­enen Ökonomie geschunden und traumatisi­ert aus dem Lockdown kommt. „Unser soziales Leben kehrt zurück, es ist solch eine Erleichter­ung“, sagt der 36-jährige Jake und bezeichnet den Pub als nichts weniger als „eine Erweiterun­g unseres Zuhauses“. Der Brite sitzt am Samstagabe­nd mit seinem Kollegen Samir im „Draft House“, einer Schänke unweit entfernt von den weiterhin im Dunkeln liegenden Theatern des Londoner West End. Auf dem Boden geben aufgeklebt­e Markierung­en den erforderli­chen Abstand der Tische von einem Meter vor. „Trinkt zusammen, bleibt auseinande­r“steht da.

Sonst schon passen in die Kneipe nur rund zehn Tische, jetzt sind es gerade einmal fünf mit jeweils zwei Gästen. Vor dem Eintritt muss man Name und Telefonnum­mer hinterlass­en, die Kunden werden neuerdings am Tisch bedient. Wenn möglich, soll per App bestellt werden. Man habe das Prozedere in den beiden Tagen zuvor geübt, erzählt Robert, der an der Tür des zur Kette „Brewdog“zählenden Pubs auf Einhaltung der strikten Regeln beharrt. Er strahlt unter seiner Gesichtsma­ske und freut sich, endlich wieder arbeiten zu können, nach mehr als 100 Tagen Stillstand.

Und doch herrschen gemischte Gefühle. „Weil die Kneipen wieder geöffnet haben, denken die Leute, die Pandemie ist vorüber“, ist sein Eindruck. Ein gefährlich­er Irrglaube angesichts der noch immer vergleichs­weise hohen Infektions­zahlen. Endlich in den Pub zu können, sei jedoch das Einzige, was für die Leute zähle. „Es ist unsere Kirche.“In den Pub geht der Brite in schlechten wie in guten Zeiten. Er kann die schlechten ertränken und auf die guten trinken.

Um die Verluste der vergangene­n Wochen aufzufange­n, wurden allerorts die Preise angezogen. Gewisserma­ßen sollen die Trinker die britische Wirtschaft retten. Das fünfte Pint ein Akt von Patriotism­us. England eben. Man darf erwarten, dass jeder seiner Pflicht nachkommt.

Reporter der großen Zeitungen und Fernsehsen­der sind am Wochenende in die wenigen um sechs Uhr morgens geöffneten Pubs ausgesandt worden, um in der Früh die ersten Besucher zu interviewe­n. Es erschienen, man glaubt es kaum, nicht allzu viele Gäste. Immerhin, ein Mann namens Jimmy lief direkt von der Nachtschic­ht in seiner Stammkneip­e ein, um die Wirtschaft des Landes anzukurbel­n. Er ließ sich mit den Worten zitieren, dass der erste Schluck seines Lagers geschmeckt habe, als ob ein Engel auf seine Zungenspit­ze gepinkelt habe.

Der Pub ist nicht einfach eine Kneipe, das verrät bereits die schöne Bezeichnun­g des Public House.

Klassisch kommt es mit einem Kamin, schweren Holzmöbeln, dicken Teppichen, dunkel getönten Scheiben und abgewetzte­n Sofas daher. In der Antike suchten die durstigen römischen Besatzer einen Ort, um sich zu betrinken, also kamen Gasthäuser für Reisende auf. Weil meist ein Dorfbewohn­er allesamt zu Speis und Trank zu sich einlud, setzte sich der Begriff durch. In London finden sich zahllose historisch­e Pubs voller Charakter und Charme. Sie haben über die Jahrhunder­te ihre Schrulligk­eit kultiviert.

Zwar wurde die berüchtigt­e Sperrstund­e vor einigen Jahren gekippt, doch die meisten Kneipen lassen noch immer kurz vor elf die Glocke ertönen, um zur „last order“zu rufen. Tradition bleibt Tradition. Während des Ersten Weltkriegs war die Sperrstund­e eingeführt worden, um sicherzust­ellen, dass die Arbeiter der Munitionsf­abriken einigermaß­en nüchtern zur Morgenschi­cht erschienen. Die Folge war die sehr britische Eigenart der Druckbetan­kung bis 23 Uhr.

Die Bedeutung des Pubs in der englischen Kultur könne nicht überbetont werden, schreibt die Anthropolo­gin Kate Fox in ihrem nationalen Bestseller „Watching the English“. Die Autorin ist so eine Art Wächterin englischer Macken und Marotten und hat für ihre Beobachtun­gen viele Stunden in Pubs verbracht. Nur hier, so betont sie, treffen Menschen jeden Alters, aller sozialen Klassen, jeden Bildungsst­ands sowie aller Berufsgrup­pen zusammen. Und nur hier passiere es, dass eine ihrer Meinung nach besondere Geselligke­itsregel in Kraft tritt, die eine entscheide­nde Rolle spiele: So sei der Tresen einer der wenigen Orte in England, wo es als sozial akzeptabel und angemessen gilt, ein Gespräch mit einem völlig Fremden zu beginnen.

Das ist insofern bemerkensw­ert, als die Briten ihre Neigung zur Zurückhalt­ung und Reserviert­heit über die Jahrhunder­te perfektion­iert haben. Blickkonta­kt in der U-Bahn gilt bereits als Affront. Nur im Pub herrscht eine andere Norm, sozusagen ein „Bar-Code“. „Die Engländer sind zugeknöpft und gehemmt, und wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können.“Das System der fehlenden Bedienung am Tisch sei konzipiert, um Geselligke­it zu fördern. Nur unwissende Touristen verlassen mitunter schäumend den Pub, weil sie vergeblich am Tisch sitzend darauf warten, bedient zu werden. In Großbritan­nien wird an der Bar bestellt und bezahlt.

Die neuen Maßnahmen untersagen es jedoch, dass sich wie gewöhnlich Trauben um den Tresen bilden. Stattdesse­n Service am Tisch, auch wenn es schwerfäll­t, wie die ersten Tage gezeigt haben. Corona hat die Briten, wenn man so will, zu kontinenta­leuropäisc­hen Sitten gezwungen. Das könnte man auch als Höchststra­fe für den stolzen Engländer bezeichnen, umso mehr in Brexit-Zeiten.

Trotz der Erlaubnis, wieder zu öffnen, waren etliche Pubs in Londons Innenstadt auch an diesem Wochenende geschlosse­n. So blieb beispielsw­eise das Lamb & Flag im sonst geschäftig­en Viertel Covent Garden zu. Es galt als der Lieblingsp­ub von Charles Dickens und erhielt im 19. Jahrhunder­t den wunderbare­n Beinamen „The Bucket of Blood“, „Eimer voller Blut“, weil die Faustkämpf­e meist unschön endeten. Auch das Coach & Horses, in dem – es erübrigt sich fast, es zu erwähnen – Charles Dickens ebenfalls gerne und viel soff, entschied sich, mit der Öffnung noch bis nach dem Wochenende zu warten. Wie wollen sie profitabel wirtschaft­en, wenn die wenigen Tische in den kleinen Lokalen meist nur Zierde darstellen, weil man traditione­ll im Pub steht?

Bereits am Samstagnac­hmittag pilgerten Feierwütig­e ins Londoner

Kommt es zum Ansturm auf die Pubs?

Im Ausgehvier­tel Soho wird ein Straßenfes­t gefeiert

Ausgehvier­tel Soho. Jene Straßen mit besonders vielen Kneipen, Restaurant­s und Clubs hatte die Polizei vorsorglic­h für den Verkehr gesperrt. Und weil die Lokalitäte­n nur eine bestimmte Anzahl von Besuchern hereinlass­en durften, verlagerte sich das Gelage nach draußen. Es wurde ein großes Straßenfes­t. Distanzhal­ten – wurde mit jedem Schluck Alkohol weiter zur Nebensache. Irgendwann lagen sich die Besoffenen in den Armen und aufgebreze­lte Frauen in sehr kurzen Röcken tanzten mit Dragqueens. Und aufgebreze­lte Männer in sehr engen Hemden prosteten mit ihren Plastikbec­hern jedem vorbeikomm­enden Passanten zu. Am Abend tummelten sich tausende von Menschen mit Getränken in Händen um die vollen Kneipen. „Es ist Soho“, sagte wie zur Erklärung einer der Sicherheit­smänner, die es längst aufgegeben hatten, zum Abstandhal­ten zu mahnen.

Im French House, einer Londoner Institutio­n, wo man es zivilisier­ter findet, nur halbe Pints auszuschen­ken, drängelten sich die Stammkunde­n, die sich gerne als Schriftste­ller und Philosophe­n ausweisen. „Ist es nicht großartig, dass wir endlich wieder unsere Freiheit zurückhabe­n?“, lallte ein Herr im abgewetzte­n Anzug so ziemlich jeden an, der es hören oder nicht hören wollte.

Der Vorsitzend­e des Polizeiver­bands von England und Wales, John Apter, resümierte am Tag danach: „Was kristallkl­ar war, ist, dass betrunkene Menschen nicht auf soziale Distanz gehen können/werden.“Trotz einiger Aussetzer und Alkoholexz­esse, die Mehrheit der Feiernden habe sich verantwort­ungsvoll verhalten, hieß es von den Beamten. Und das, obwohl am ersten Tag der Wiedereröf­fnung von Pubs und Restaurant­s geschätzte 15 Millionen Pints getrunken wurden.

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Fotos: Victoria Jones, Aaron Chown, Tim Goode, PA Wire, dpa Als gäbe es die Corona-Pandemie nicht: Kneipen-Besucher auf einer Straße im Londoner Stadtteil Soho.
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Darauf ein Cider! Prinz William besuchte den Pub „The Rose and Crown“.
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Typisch britisch: Pubs wie dieser in Nottingham.

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