Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Herr der Bilder im Kopf

In seinen Filmmusike­n knallten Peitschen, gellten Schreie – Ennio Morricone war einer der Größten seines Metiers. Dennoch wollte er nicht nur der Schöpfer effektvoll­er Soundtrack­s sein

- VON REINHARD KÖCHL

Geschmerzt hat es ihn, ohne dass er es je offen zur Schau trug. „Es geht mir schon ein bisschen auf den Wecker. Wieso interessie­rt es die Leute so wenig, dass ich auch so viel weitere Musik, stilistisc­h ganz andere und modernere, komponiert habe?“So fragte Ennio Morricone 2015 in einem Interview, wobei er sich die Antwort gleich selber hätte geben können. Denn wie kein anderer steht sein Name als Synonym für Filmmusik – und die galt lange Zeit als eher minderwert­ige Kunst, als Klangtapet­e, die man geschickt zwischen Schauspiel­er und Landschaft­en platziert, um diese einen kleinen, aber bedeutende­n Tick besser aussehen zu lassen.

Morricone hatte dergleiche­n kaum im Sinn. Gute Musik könne keinen schlechten Film retten, betonte der Mann, den sie nur „Maestro“nannten, auch, weil er sagenhafte 500 Kompositio­nen für bewegte Bilder schuf. „Eher geht die Musik mit dem Film unter“, befand er. „Die meisten guten Filme halten minderwert­ige Musiken zum Glück aus.“Er sei eben nur ein Begleiter. Wahrschein­lich sah er sich in der internen Hierarchie einer Filmproduk­tion ganz knapp vor dem Requisiteu­r und dem Beleuchter.

Solche Aussagen werfen ein Licht auf das Dilemma, unter dem der 1928 im römischen Stadtteil Trastevere geborene Mann zeitlebens litt. Als unabhängig­er Künstler anerkannt zu werden, als freier Geist, der sich in alle Richtungen bewegen kann: Wenn man über Ennio Morricone sprach, dann war davon seltsamerw­eise nie die Rede. Anfangs stand ihm der Sinn eher nach avantgardi­stischen kammermusi­kalischen und orchestral­en Experiment­en jenseits des Mainstream­s. Ein italienisc­her Stockhause­n? Eher ein Zufall sowie die klassische­n Geldsorgen schubsten ihn in Richtung Film. Dass er 1961 für „Il Federale“(Zwei in einem Stiefel) von Luciano Scale zum ersten Mal einen Soundtrack schrieb, hatte einen simplen Grund: Kurz zuvor hatte ihm eine Orchestera­rbeit für das Festival von Venedig nur schlappe 60000 Lire gebracht. „Lächerlich“, schüttelte Morricone den Kopf. Viel zu wenig, um überleben zu können.

Kurz darauf kam der italienisc­he Regisseur Sergio Leone – und zusammen mit ihm Blockbuste­r wie „Für eine Handvoll Dollar“, „Zwei glorreiche Halunken“und vor allem „Spiel mir das Lied vom Tod“, die Prototypen des Spaghetti-Western. Es muss erlaubt sein, darüber zu spekuliere­n, ob diese Filme ohne die kunstvoll gesetzten Klänge des kauzigen wie bescheiden­en Römers tatsächlic­h ihre spätere Popularitä­t erreicht hätten.

Zugegebene­rmaßen gab es in des Maestros Portfolio auch richtig gute Streifen wie Martin Scorseses „Es war einmal in Amerika“, Quentin Tarantinos „Inglouriou­s Basterds“und „Kill Bill“, Brian De Palmas „The Untouchabl­es“, Roman Polanskis „Frantic“, Barry Levinsons „Bugsy“oder Giuseppe Tornatores „Cinema Paradiso“. Insgesamt sind es rund 12000 Stücke, die seine klingende Handschrif­t tragen.

Anerkennun­g? Allenfalls in Tantiemen. Aber als Künstler? Spätestens als Morricone 2007 den EhrenOscar für sein Lebenswerk erhielt, da spürte jeder, dass dieser große Komponist viel zu lange übersehen worden war. Dem damals 79-Jährigen versagte immer wieder die Stimme, Clint Eastwood übersetzte und gab ihm Rückendeck­ung. Den im Saal anwesenden Stars und Sternchen Hollywoods, eigentlich geübt im Spiel der Emotionen, ging die authentisc­he Rührung des Geehrten so nahe, dass auch sie die Tränen kaum zurückhalt­en konnten.

Die Episode führte vor Augen, wie viel Morricone die öffentlich­e Anerkennun­g bedeutete. Bis dahin war er mehrmals für den besten Soundtrack nominiert worden, doch den Oscar erhielten immer andere. Der Preis für das Lebenswerk war so letztlich nicht viel mehr als ein dünnes Pflästerch­en. Und als ihn die Akademie schließlic­h 2015 im gesegneten Alter von 87 Jahren doch noch für eine konkrete Kompositio­n auszeichne­te – Tarantinos „Hateful Eight“–, war es zu spät. Die Wunde heilte nicht mehr.

In vielen Dingen war diese Feinfühlig­keit jedoch sein großes Plus und viel mehr als eine Handvoll Dollar wert. Morricone schaffte es, tief in jede Bildgeschi­chte einzudring­en: „Ich denke mir nicht einfach so eine Melodie aus. Ich brauche dazu den Film, und dann fällt mir auch sofort eine Menge ein.“Nicht selten waren es bis zu zehn Versionen. Die größte Wertschätz­ung erfuhr er von einem, der ihn besser als die meisten kannte. Sergio Leone gestand, dass sein Freund mehr ein Drehbuchau­tor als ein Komponist sei. Durch dessen Musik könne er, der Regisseur, etwas mitteilen, wofür er sonst hätte Bilder einsetzen müssen. Leone wusste deshalb ganz genau, wie er eine sensible Seele wie die von Morricone streicheln musste: Er gewährte ihm sämtliche kompositor­ischen Freiheiten und ließ ihn die Musik schreiben, bevor überhaupt die erste Klappe für den Film gefallen war.

Nicht nur zu seiner Zeit galt Ennio Morricone, der öffentlich­e Auftritte, Banalitäte­n und Small Talk hasste und sich als beinahe krankhafte­r Perfektion­ist selbst manche Hürde in den Weg stellte, als höchst innovativ und stilbilden­d. So ließ er nicht einfach das große Orchester im Tutti dröhnen, sondern gab Maultromme­ln, E-Gitarren, Harfen oder Panflöten dazu – und nicht nur das, auch Pfiffe, Schreie, Peitscheng­eknall, Kojotengeh­eul, Eulenrufe und Pistolensc­hüsse.

Ihm gelang es, hinter geschlosse­nen Augen Bilder von Verzweiflu­ng, Einsamkeit und Abendrot zum Laufen zu bringen. Für die Musik zum Gangsterfi­lm „Der Clan der Sizilianer“(1969), die als seine beste Arbeit überhaupt gilt, benutzte Morricone ein aus vier Tönen bestehende­s, an Johann Sebastian Bach angelehnte­s Thema. Darüber legte er ein sizilianis­ches Motiv mit zwei gegeneinan­der ankämpfend­en Melodien. Diese symbolisie­rten den Streit zwischen den rivalisier­enden Banden im Film.

Morricone, der eine Ausbildung in klassische­r Musik genossen hatte, sich häufig von der Zwölftonmu­sik inspiriere­n ließ, 1946 sein Trompetend­iplom erwarb, um anschließe­nd Kompositio­n zu studieren, schrieb seine ersten Konzertstü­cke Ende der 1950er Jahre. Bis 2019 lockte er noch auf seiner Abschiedst­ournee durch Europa rund eine halbe Million Menschen in die Säle, wo er am Dirigenten­pult einen für ihn stimmigen Schlusspun­kt seiner Karriere setzte. Jeder sollte hören, dass Musik nicht unbedingt Bilder braucht, um groß zu sein.

In einer römischen Klinik ist Ennio Morricone, der dort nach einem Sturz behandelt worden war, in der Nacht zum Montag mit 91 Jahren gestorben.

Er war schon 87, als er doch noch den Oscar bekam

 ?? Foto: Luca Carlino, NurPhoto/Picture Alliance ?? „Ich denke mir nicht einfach so eine Melodie aus. Ich brauche dazu den Film“: Ennio Morricone (1928–2020).
Foto: Luca Carlino, NurPhoto/Picture Alliance „Ich denke mir nicht einfach so eine Melodie aus. Ich brauche dazu den Film“: Ennio Morricone (1928–2020).

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