Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Mit der Lederhose nach Dachau
Eine Intervention im Jüdischen Museum erzählt vom jüdischen Alltag und den Werten der Menschen. Die Perspektive ist dabei eine besondere
Gleiches Recht für alle, Schutz durch Gemeinschaft, Sorge füreinander – gemeinsame Werte halten eine Gesellschaft zusammen, sind Tugenden, Normen und Geisteshaltung. Sie bieten Orientierung und Sinn. Und können doch auch ausgrenzen und spalten, indem sie Menschen, die nicht in diese Wertegemeinschaft passen, ausschließen.
Das musste auch Heinz Landmann feststellen, 1920 in Augsburg geboren. Gern zog der junge Mann seine Lederhose an, eine „Krachlederne“, wie sie ein bayerischschwäbischer Bursche im Alltag trug. Für ihn war sie ein Symbol für seine Zugehörigkeit zu diesem Land und den Menschen, die hier lebten. Aber Landmann war nicht nur Bayer, sondern auch Jude – und durfte deshalb die Lederhose nicht mehr tragen. Weil er nach den Vorstellungen der nationalsozialistischen Machthaber kein Teil der deutschen „Volksgemeinschaft“war. Am 10. November 1938 schlüpfte er noch einmal in das gute Stück, als er verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau deportiert wurde. Jetzt liegt sie im Jüdischen Museum Augsburg Schwaben in einer Vitrine und macht deutlich: Ob man zu einer Gemeinschaft gehört oder nicht ist eine Frage der Perspektive.
„Unsere Werte“heißt die neue Intervention im Jüdischen Museum Augsburg Schwaben, die bis zum 11. April 2021 die Dauerausstellung der Synagoge an der Halderstraße über jüdische Feste und Traditionen ergänzt, kommentiert und hinterfragt. Denn, so Museumsdirektorin Barbara Staudinger, Museen dürfen keine starren Ausstellungsstätten sein, sondern leben von der Verwandlung und der Neuerzählung ihrer Geschichten. „Ganz besonders religiöse Traditionen müssen in einer säkularen Gesellschaft, in der Religion eine geringe Rolle spielt und wenig Vorwissen vorhanden ist, neu vermittelt werden.“
So erzählen nun Objekte in fünf zusätzlichen Vitrinen vom jüdischen Alltag und von den Werten, die ihre Besitzer prägten: Gemeinschaft, Familie, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Wohltätigkeit. Gleichzeitig fordert die Ausstellung dazu auf, eine eigene Position zu finden. In den reflexiv gehaltenen Begleittexten stellen sich immer auch Fragen nach der aktuellen Diskussion um Wertvorstellungen und ihren Wandel. Die meisten Stücke, die Staudinger und die Museumsmitarbeiterin Magdalena Paschke zusammengetragen haben, sind erstmals zu sehen und stammen aus dem Depot des Jüdischen Museums.
Wie die Lederhose Heinz Landmanns, der einige Wochen nach seiner Deportation wieder freikam. Mit seinen Eltern und zwei Schwestern
konnte er in die USA flüchten. Als Soldat der US-Army kam Henry Landman am 28. April 1945 zurück nach Augsburg und hielt auch später aus den USA die Verbindung mit seiner alten Heimat, in der er als Kind und junger Mensch Gemeinschaft gefunden und verloren hatte. 2014 starb Landmann in den USA.
Wie sich Inhalt und Gültigkeit von Werten verändern können, zeigt das Testament von Leo Herrmanns. Er emigrierte 1939 nach Bombay, seine Schwester floh mit Mann und Kindern nach Brasilien. Sein Vermögen vermachte er nach seinem Tod 1990 jedoch nicht seinen leiblichen Verwandten, sondern den Hausangestellten, die ihm in Indien zur zweiten Familie wurden. Nicht von ihrer Familie lassen mochte dagegen Margot Herrmann. Eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin brach sie ab, um zu ihrer Schwester und ihren Eltern nach Augsburg zurückzukehren. Hier wartete sie auf die Einreisegenehmigung nach Großbritannien, wurde Zwangsarbeiterin in der Ballonfabrik und 1942 in das Lager in Piaski deportiert. Dort verliert sich die Spur der Familie. Erhalten ist das Rezeptbuch der jungen Margot, in dem sich auch eine Anleitung zur Herstellung von Berches, dem Sabbatbrot, findet.
Die Intervention im Jüdischen Museum dokumentiert nicht nur Historie, sondern knüpft auch Verbindungen in die Gegenwart. Einen Wert wie Gerechtigkeit stellt sie in Zusammenhang mit Diskursen wie etwa den über die Rückgabe der von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Güter an ihre ursprünglichen Besitzer. Der Versuch einer Form von Wiedergutmachung erlittener Verluste. 2018 erhielten die Nachkommen Ludwig Friedmanns das Gemälde „Bauernstube“von
Ernst Immanuel Müller zurück. Auch in seinem Zimmer in einem „Judenhaus“in der Bahnhofstraße hatte es noch an der Wand gehangen. Einen Tag, bevor Ludwig Friedmann und seine Frau Selma 1943 den Deportationsbefehl erhielten, nahmen sie sich das Leben.
Fast nebensächlich nimmt sich ein kleiner Karteikasten aus. Auf seinen Karten finden sich, alphabetisch geordnet, die Daten von über 500 Opfern des Nationalsozialismus in Bayerisch-Schwaben. Bei Renovierungsarbeiten war das Kästchen im Keller der Synagoge gefunden worden. Nach dem Krieg hatte die jüdische Gemeinde die Informationen gesammelt, um das Unrecht zu dokumentieren und die Justiz bei der Aufklärung der NS-Verbrechen zu unterstützen. Auch das ein Versuch nachträglicher Gerechtigkeit. Es sind universelle Werte, auf die diese Intervention im Jüdischen Museum einen Blick wirft, aber als spezifisch jüdische Blickrichtung ist allen Objekten die Schoah.
Ein Vermächtnis für die Hausangestellten
OGeöffnet Mo. bis Do. 9 bis 18 Uhr, Fr. 9 bis 16 Uhr, So. 10 bis 17 Uhr; Laufzeit bis 11. April 2021.