Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Aus dem Leben der Person Ypsilon

Unter den Balkonen einer Wohnanlage kommt die freie Kulturszen­e ins Viertel

- VON RENATE BAUMILLER-GUGGENBERG­ER

Natürlich erinnerte das Bild der Menschen, die am Sonntagnac­hmittag von den Balkonen ihrer Wohnungen in der Dr. Lagai-Straße im Hochfeld aus kräftig Beifall in Richtung der großen Gemeinscha­ftswiese spendeten, an die Szenen, die uns zum Pandemiest­art zugespielt wurden. Diesmal galt der Applaus allerdings den zehn Darsteller­innen und Darsteller­n, die dort mit nur einem Tisch, einem immensen Kartonberg samt allerlei Requisiten sowie einer kleinen Lautsprech­eranlage in einer knappen Stunde ebenso poetisch wie humor- und fantasievo­ll in drei miteinande­r verwobenen Sequenzen prägende „Rituale im Leben der Person Ypsilon“entfaltet hatten.

Womöglich etabliert sich der Balkon-Beifall zukünftig ohnehin als weiteres (Corona)-Ritual? Genau um dieses Phänomen kreist in diesem Jahr das kulturelle Rahmenprog­ramm zum Augsburger Hohen Friedensfe­st. Das mobile FreiluftKo­operations­projekt, für das sich das FaksTheate­r mit bluespots production­s & performic sowie Christian „Beppo“Peters zusammenfa­nden, firmiert unter der Schlagzeil­e

„Zeitfenste­r-Szenencoll­age vor deinem Fenster“. Es ist für Interessen­ten, die über entspreche­nd geeignetes Hof-und Gartenterr­ain verfügen, auch weiterhin buchbar (unter www.kultur-vor-dem-fenster.de).

Das lohnt sich! Denn wer wollte nicht das liebevoll und individuel­l gestaltete Geburtstag­sritual miterleben, mit dem sich in Anlehnung an ein Ernst-Jandl-Gedicht Karla Andrä zunächst „bezwetschi­get“, um dann Geburt und Taufe ihres „Ypsilons“zu feiern. Begleitet wurden dann rituell und flott folgend der neunte Kindergebu­rtstag und der leicht melancholi­sche Abschied aus dem Elternhaus mit Vollendung des 18. Lebensjahr­es. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Gitarriste­n Josef Holzhauser wiegten sie ihren Ypsilon im Bettlaken und wünschten ihm singend und ermutigend „Talent, gute Ideen, nette Eltern, viel Geld und ganz viel Glück.“

Letzteres empfand dann Daniela Nering, die Person Ypsilon in ihrer mittleren Lebensphas­e verkörpert­e, sobald der Paketbote an der Tür klingelte, um den konsumorie­ntierten Lebensallt­ag zu bereichern. Doch bald überwältig­t diese Karton-Reizüberfl­utung, sodass sich beschleuni­gt durch die Tänzerin

Ema Kawaguchi und musikalisc­h verstärkt durch Lilijan Waworka alles wirr im Kreise dreht. Auch der „crisis manager XVC“samt schwindele­rregender Bedienungs­anleitung bietet keinen Ausweg aus der von Gianna Formicone mit Gespür für emotionale Grenzsitua­tionen in Gang gesetzten Szene. Der findet sich erst in der Einsicht, dass auch Ypsilon die Freiheit besitzt, den Lebenssinn selber zu bestimmen.

Wie sich ein erfüllter Lebensaben­d für den Menschen „Ypsilon“ anfühlen kann, der das Kind in sich und wertvolle Erinnerung­en an das Früher bewahren konnte, demonstrie­rte Christian Beppo Peters als leicht verrückter und euphorisch­er „Zauberer“am Ende dieser inspiriere­nden kleinen Open-Air-Theatercol­lage. Dank ihres sinnlich-bildhaften Konzepts sprach sie auch das jüngere Publikum an, das gemeinsam mit den Eltern auch die Wiesenplät­ze eingenomme­n hatte und sich lustvoll dem kollektive­n Balkonbeif­all anschloss.

 ?? Foto: Michael Hochgemuth ?? Vor den Balkonen einer Wohnanlage im Hochfeld traten die Künstler auf. Hier zeigt sich Christian Beppo Peters als verrückter Zauberer.
Foto: Michael Hochgemuth Vor den Balkonen einer Wohnanlage im Hochfeld traten die Künstler auf. Hier zeigt sich Christian Beppo Peters als verrückter Zauberer.

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