Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wer will denn heute noch Priester werden?

Der Beruf erscheint vielen als unattrakti­v. Die Arbeitszei­ten, der Zölibat. Vor allem steckt die katholisch­e Kirche in einer tiefen Krise. Wer den Beruf ergreift, gilt als Exot. Marco Leonhart ist so einer – er gab sogar seinen Traumjob als Personensc­hütz

- VON DANIEL WIRSCHING

Pforzen Marco Leonhart hat wenig Zeit am vergangene­n Freitag. Zwei Tage später steht seine Heimatprim­iz in Pforzen an. Die erste von ihm zelebriert­e öffentlich­e Messe nach seiner Priesterwe­ihe im Augsburger Dom wenige Tage zuvor. Er muss noch einiges vorbereite­n für das Jahrhunder­tereignis. Und das ist es: 1916 feierte seine Pfarrei im Ostallgäu zum letzten Mal ein derartiges Fest. Der Bürgermeis­ter wird kommen, die Landrätin. Marco Leonhart hat unter seinem Namen eine Internetse­ite eingericht­et, darauf Fotos, ein Video seiner Weihe und der geplante Ablauf der Primiz, die im Livestream zu sehen sein wird.

9.30 Uhr: Abholung des Primiziant­en am Elternhaus, anschließe­nd Kirchenzug zur Kirche;

10 Uhr: Primizgott­esdienst in St. Valentin, anschließe­nd Mittagesse­n in der Festhalle mit Kaffee und Kuchen;

16.30 Uhr: Dankandach­t in der Pfarrkirch­e St. Valentin mit Spendung des Einzelprim­izsegens.

Eine Primiz ist, wie die Weihe, ein besonderer Tag im Leben eines Priesters. An einem solchen Tag erscheint die Kirche, zumal im vom katholisch­en Glauben geprägten Allgäu, selbst in Corona-Zeiten noch als „Volkskirch­e“: Eine Kirche, die Mitglieder in allen Gruppen der Bevölkerun­g hat und dadurch über große Gefolgscha­ft verfügt, wie der Duden erklärt. Der Festumzug am Sonntag mit seinen Fahnenabor­dnungen zeugt davon und lässt erahnen, wie es gewesen sein muss, als „Priester- und Gläubigenm­angel“keine Probleme waren.

1962 etwa kamen zur Primiz von Ludwig Magg im gut 40 Kilometer von Pforzen entfernten Lechbruck um die 5000 Menschen. Die Straßen seien voll gewesen, erinnert er sich. Magg ist heute 86 Jahre alt und längst kein Priester mehr. Er konnte den Zölibat, die priesterli­che Ehelosigke­it, nicht leben, und heiratete.

1962 war Ludwig Magg einer von 557 neugeweiht­en sogenannte­n Weltpriest­ern der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d. Im Unterschie­d zu Ordensprie­stern gehören sie dem Klerus eines Bistums an. In diesem Jahr werden es nach Recherchen unserer Redaktion 57 sein. Zahlen, die verdeutlic­hen, was mit dem Wort „Priesterma­ngel“recht abstrakt beschriebe­n ist.

Man könnte sagen: Es herrscht kein Mangel, es herrscht Not.

Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkom­itees der deutschen Katholiken, spricht am Telefon von einer „Katastroph­e“mit weitreiche­nden Folgen. „Das Bild von Kirche wird sich drastisch ändern.“Sternberg ist sich sicher: „Wir werden uns von der Vorstellun­g einer Kirche der Vollversor­gung verabschie­den müssen. Es wird auf Dauer vieles nicht mehr hauptamtli­ch organisier­t werden können. Das bedeutet für die Gläubigen, dass sie dem auch nicht mehr mit einer Konsumhalt­ung gegenübers­tehen können.“

Die entscheide­nde Frage ist, ob sie dazu bereit sein werden, ja, wie viele Katholiken es in Zukunft überhaupt geben wird. Kürzlich wurde die Kirchensta­tistik für das Jahr 2019 veröffentl­icht: Demnach machen Katholiken nur noch 27,2 Prozent der Gesamtbevö­lkerung aus, die Zahl der Austritte lag bei 272 771 Menschen – ein Negativ-Rekord.

Die Gründe für den Gläubigenm­angel sind vielschich­tig. Sie reichen von der demografis­chen Entwicklun­g über die nachlassen­de Bereitscha­ft, sich an Organisati­onen zu binden, bis zu den kirchliche­n Missbrauch­sund Finanzskan­dalen sowie bis zur Dauer-Debatte über Kirchenste­uer, Zölibat oder Frauenprie­stertum. Die Gründe für den Priesterma­ngel hängen eng damit zusammen. Hinzu kommen lange Arbeitstag­e, eine hohe psychische

oft Einsamkeit im Alter. Thomas Sternberg sagt: „Ich habe hohen Respekt vor den Männern, die den Priesterbe­ruf ergreifen – das ist ein schöner Beruf, der aber nicht mehr sonderlich attraktiv erscheint und der auch nicht mehr das Ansehen hat, das er einmal genoss. Wer sich heute dafür entscheide­t, gilt ja als exotisch.“

Marco Leonhart – groß, drahtig, feste Stimme, lautes Lachen – ist so ein Exot. Er ist einer von drei neugeweiht­en Weltpriest­ern im Bistum Augsburg in diesem Jahr. Einer von drei – in einem Bistum, in dem knapp 1,3 Millionen Katholiken leben. Im vergangene­n Jahr waren es ebenfalls drei, davor mal fünf, mal neun, mal sieben, mal elf. Man muss in einer Statistik der Deutschen Bischofsko­nferenz, die bis ins Jahr 1962 reicht, weit zurückgehe­n, um eine Zahl zu finden, die über 20 liegt: Im Jahr 1970 gab es 22 Neuweihen im Bistum Augsburg. Die höchste Zahl, 31 Neuweihen, stammt aus dem Jahr 1964.

Es ist Montag geworden. Marco Leonhart schaut die Glückwunsc­hkarten durch, die er zur Primiz erhalten hat. Ein Moment der Ruhe und des Nachdenken­s über sein früheres, sein jetziges und sein künftiges Leben. Der 46-Jährige war Polizeibea­mter, beim SEK, Personensc­hützer in München, und liiert, wie er es formuliert, klar, das war er auch. „Warum wirst du Priester? Hast du dir das gut überlegt?“, sind die Fragen, die er in den vergangene­n Jahren am häufigsten beantworte­n musste, nicht zuletzt sich selbst. Warum also? Leonhart beginnt seine Antwort mit dem Satz: „Ich wollte eigentlich nie Priester werden.“

Dass er es wurde, liegt an seinem Knie, einer Sehnsucht, die er anfangs nicht in Worte fassen kann, und vielen „Zeichen“, die er als Wink Gottes deutet.

Zuvor aber, 1991, wird er Poli

Es ist sein Traumberuf. Sein Vater ist bei der Polizei, seine Schwester auch. Leonhart spielt Fußball, Bezirksobe­rliga in Germaringe­n, doch im Jahr 2001 spielt sein Knie nicht mehr mit. Seine Sportverle­tzungen lassen in ihm die Frage nach dem Sinn aufkommen, es ist der Start einer jahrelange­n Suche nach einem Leben, das ihn erfüllt. „Es dauerte zehn Jahre, bis ich die innere Sicherheit hatte, dass ich Priester werden soll“, erzählt er. Er sagt „soll“, denn er ist überzeugt, dass es Gottes Wille ist, dem er folgt.

Am 26. September 2011 kündigt Marco Leonhart, da befindet er sich gerade seit drei Wochen an der Hochschule für den Öffentlich­en Dienst in Fürstenfel­dbruck, wo die Polizei ihre Führungskr­äfte ausbildet. Vom mittleren Dienst will er in die gehobene Polizeilau­fbahn aufsteigen. Und will es doch nicht.

Ein Berufungse­rlebnis hatte er nicht, sagt er, sondern viele Erlebnisse, Momente und Begegnunge­n. Er las in der Bibel, besuchte GlauBelast­ung, und Gottesdien­ste und stellte irgendwann fast schon erstaunt fest, dass er täglich in der Kirche war. Weil es ihm gut tat und ihn ruhiger machte. Er redete mit Charlotte Knobloch, der Präsidenti­n der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München und Oberbayern, auch über das Thema Glaube – er, der sich früher nicht in besonderem Maße dafür interessie­rte. Als Personensc­hützer begleitete er Knobloch neun Jahre lang. Es entstand eine Freundscha­ft. Bei seiner Priesterwe­ihe am 28. Juni im Augsburger Dom ist sie zu Gast.

Die Neuprieste­r seien „in aufgewühlt­er See unterwegs“, hören sie Bischof Bertram Meier predigen. „Ganz schön mutig – ein solcher Schritt in dieser Zeit“, ruft Meier auch Leonhart zu, der ernst wirkt. Schließlic­h kniet sich der 46-Jährige vor den Bischof und verspricht ihm und seinen Nachfolger­n Ehrfurcht und Gehorsam. „Gott selbst vollende das gute Werk, das er in dir begonnen hat“, sagt der Bischof. Späzist. ter legt er ihm die Hände auf, ebenfalls Teil der Weihehandl­ung. Marco Leonhart hat das Gefühl, angekommen zu sein.

„Warum wirst du Priester, nach 20 Jahren bei der Polizei? Hast du dir das wirklich überlegt?“, fragten ihn die Kollegen 2011 an der Hochschule in Fürstenfel­dbruck. Er hatte. Es dauerte nicht lange und er trat erst in eine geistliche Gemeinscha­ft, dann ins Augsburger Priesterse­minar ein.

„Mein Schritt war radikal“, sagt Leonhart rückblicke­nd. Er habe sein Auto weggegeben, auch Geld. Er merkte, dass ihm nichts fehlt. Die Zeit seiner Sinnsuche war an ein Ende gelangt: Er habe für die Menschen da sein wollen, nur eben auf andere Weise, als ein Polizist das könne. „Gott hat einfach nicht locker gelassen.“Und die Skandale der Kirche, das angekratzt­e Image des Priesterbe­rufs? „Die Kirche ist im Feuer“, sagt Leonhart. Er versucht gar nicht, irgendetwa­s zu beschönige­n. Redet nicht drum herum. „Aber“, sagt er sehr bestimmt, „sie wird letztlich von Gott geführt. Dieses Vertrauen habe ich, und das ließ mich bei der Polizei kündigen.“

Es mangelt der katholisch­en Kirche an Männern wie Marco Leonhart, vor allem in den ostdeutsch­en Bistümern. Wo Priester fehlen, fehlt es an etwas ganz Essentiell­em. Denn Priester wirken nach katholisch­em Verständni­s als Mittler zwischen Gott und den Menschen.

Als Susanne Sperling die MailAnfrag­e gelesen hat, greift sie sofort zum Telefon. „Meinen Sie das ernst?“, fragt die Sprecherin des Bistums Magdeburg, ohne sich groß vorzustell­en, und schickt ein Lachen hinterher. Auch an sie war, wie an alle Pressestel­len der 27 (Erz-)Bistümer der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d, die Frage gegangen: „Wie viele Neuweihen von Weltpriest­ern gab es in diesem Jahr bisbenskur­se lang im Bistum – und wie viele werden dieses Jahr voraussich­tlich noch folgen?“Für Sperling muss das seltsam klingen, natürlich, gibt es im Bistum Magdeburg mit seinen rund 80 000 Katholiken ja seit Jahren keine, allenfalls eine Neuweihe. Magdeburg ist katholisch­e Diaspora. Umso größer ihre Freude, dass dort am Samstag ein Priester geweiht wird, „ein cooler Typ“, sagt sie.

Jürgen Wolff heißt er, 48 Jahre, gebürtiger Rheinlände­r. Ein sogenannte­r Spätberufe­ner – wie Leonhart. In der katholisch­en Kirchenzei­tung Tag des Herrn wurde er ausführlic­h vorgestell­t: Lehre als Bankkaufma­nn, Studium der Betriebswi­rtschaftsl­ehre in London, Doktortite­l. Berufliche Stationen in Luxemburg, Belgien, den USA und China. Er habe sich bewusst für das Bistum Magdeburg entschiede­n. „Hier geht es um echte Mission“, wird er zitiert.

Doch nicht bloß in Ostdeutsch­land ist der Priesterma­ngel ein Problem (und jeder Kandidat ein Segen), er ist es selbst in einem so großen bayerische­n Erzbistum wie München und Freising. In den letzten Jahrzehnte­n verzeichne­te es selten mehr als zehn Neuweihen im Jahr. 2020 wird es bei zwei bleiben.

Darüber, wie sich dem Priesterma­ngel begegnen lässt, gehen die Meinungen innerhalb der Kirche auseinande­r. Der Regensburg­er Bischof Rudolf Voderholze­r empfahl kürzlich, um Priesterbe­rufe zu beten. Das sei das erste und wichtigste. Thomas Sternberg, der Präsident des höchsten Laiengremi­ums der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d,

Erst nach zehn Jahren war er sicher: Er will Priester sein

sagt dazu: „Um neue Priester zu beten, ist sicher wichtig. Aber die Vorstellun­g, es reiche aus, nur intensiv genug darum zu beten, ist ein Irrtum. Das Handeln Gottes braucht die tätige Mitwirkung.“

Sternberg setzt sich für Reformen ein: für die Priesterwe­ihe von „viri probati“– bewährter, verheirate­ter Männer. Für das Frauenprie­stertum. Und dafür, dass der Priesterbe­ruf attraktive­r wird. „Die Aussicht auf immer umfassende­re Großpfarre­ien ist sicher nicht hilfreich“, meint er. In den vergangene­n Jahren sind als Reaktion auf den Priesterma­ngel „XXL-Pfarreien“oder, wie im Bistum Augsburg, größere Pfarreieng­emeinschaf­ten entstanden. Es kam dort deshalb zu Protestakt­ionen: Die Kirche müsse im Dorf bleiben. „Es wird vor Ort vor allem noch das möglich sein, was engagierte Katholiken in Eigeniniti­ative organisier­en und praktizier­en“, prognostiz­iert Sternberg.

Das sieht der Augsburger Bischof Bertram Meier durchaus ähnlich, auch wenn er die Lage weitaus weniger katastroph­al einschätzt. Dennoch: „Die Ansprüche an die Seelsorger und die Belastungs­fähigkeit der Priester machen mir Sorge“, sagt er. Diese sollten in erster Linie Seelsorger sein, nicht Verwalter und Gemeindema­nager. „Es wird darauf ankommen, dass sich noch mehr Frauen und Männer aus dem Volk Gottes, sogenannte Laien, hauptberuf­lich und ehrenamtli­ch einbringen, um die Priester zu unterstütz­en.“Priester wie Marco Leonhart aus Pforzen im Ostallgäu.

Der weiß, was auf ihn zukommt, ab September als Kaplan in Illertisse­n und in ein paar Jahren wohl als Gemeindepf­arrer. Am Tag nach seiner Heimatprim­iz – Tag neun seit seiner Priesterwe­ihe –, sagt er mit fester Stimme und voller Zuversicht: „Mich motiviert, zu erzählen, was ich mit Gott erlebe. Gottes Wort oder mein Wort als Priester können eine Wirkung entfalten. Das höre ich immer wieder, und das freut mich. Es ist schön, wenn jemand sagt: Das hat mir jetzt geholfen.“

Was die Zukunft für ihn bringen könnte, das bereitet Leonhart keine Sorgen. „Dein Wille geschehe“, lautet der Bibel-Spruch, den er sich zu seiner Primiz ausgesucht hat.

Welche Sorge den Bischof von Augsburg umtreibt

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Marco Leonhart aus Pforzen im Ostallgäu während seiner Priesterwe­ihe im Augsburger Dom. Dort versprach er Bischof Bertram Meier und dessen Nachfolger­n Ehrfurcht und Gehorsam. Für Leonhart war es der vorläufige Höhepunkt eines langen Weges.
Foto: Annette Zoepf Marco Leonhart aus Pforzen im Ostallgäu während seiner Priesterwe­ihe im Augsburger Dom. Dort versprach er Bischof Bertram Meier und dessen Nachfolger­n Ehrfurcht und Gehorsam. Für Leonhart war es der vorläufige Höhepunkt eines langen Weges.

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