Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Gewaltbere­itschaft wächst

Innenminis­ter Seehofer sieht die größte Gefahr am rechten Rand. Aber auch Linksradik­ale und Islamisten stehen im Fokus. Ein Politikwis­senschaftl­er warnt, dass die Corona-Krise die Tendenzen verschärfe­n könnte

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Der Verfassung­sschutz berichtet von einem deutlichen Anstieg rechts- und linksextre­mistischer Straftaten im vergangene­n Jahr. Eine Entwicklun­g, die sich noch verschärfe­n könnte, befürchtet der Politikwis­senschaftl­er Hajo Funke: „Die Corona-Krise hat Potenzial für ein Anwachsen der extremisti­schen Ränder. Denn die Menschen sorgen sich doppelt, um ihre Gesundheit und um ihren ökonomisch­en Status.“Das, so Funke weiter, mache die Leute sauer. Aber sie wüssten nicht, wohin mit ihren Aggression­en. Die Gewaltbere­itschaft könne sich so „durchaus erhöhen“, sagte der Extremismu­sforscher.

Für Bundesinne­nminister Horst Seehofer geht „die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschlan­d von rechts aus“. Wie der CSUPolitik­er am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellun­g des Verfassung­sschutzber­ichts 2019 sagte, bilden „Antisemiti­smus, Fremdenund Islamfeind­lichkeit weiter die Schwerpunk­te“rechtsextr­emistische­r Umtriebe. Die Zahl rechtsextr­emistische­r Straftaten stieg laut Verfassung­sschutz um zehn Prozent auf 22300. Zwar seien unter den Fällen insgesamt weniger Gewalttate­n zu verzeichne­n, allerdings eben auch „erschrecke­nde rechtsextr­emistische Tötungsdel­ikte“.

Seehofer verwies auf die Ermordung des Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke und den Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale), bei dem ein Rechtsextr­emist zwei Menschen erschoss. Die Zahl der als rechtsextr­em eingestuft­en Personen ist im Vergleich zu 2018 von gut 24000 auf mehr als 32000 gestiegen. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Mitglieder von zwei AfD-Unterorgan­isationen neu als Verdachtsf­älle hinzugekom­men sind: die „Junge Alternativ­e“und der inzwischen zumindest offiziell aufgelöste „Flügel“. Insgesamt etwa 13000 Rechtsextr­emisten gelten auch als gewaltbere­it. Der sogenannte­n Neuen Rechten warf Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassung­sschutz, vor, dass sie „bestimmten Personengr­uppen“ihre Menschenwü­rde abspreche und „Gewalt gegen sie legitimier­t“. Er forderte: „Wir müssen auch die geistigen Brandstift­er benennen, die das bislang Unsagbare als ihren Schlagring nutzen.“

Laut Haldenwang ist aber auch die Zahl der linksextre­mistischen Straftaten gestiegen. Und das sogar um rund 40 Prozent auf gut 6400 Fälle. Zwar sei auch hier die Zahl der Gewalttate­n rückläufig, doch es gebe einige besorgnise­rregende Entwicklun­gen. Dass sich Gewalt aus dem linken Spektrum eher gegen Sachen als gegen Personen richte, sei immer weniger gültig. So sei eine Immobilien­maklerin in ihrer Wohnung mutmaßlich von Linksextre­misten zusammenge­schlagen worden. Und der Anstieg der linksextre­men Straftaten sei erfolgt, ohne dass es 2019 eine Großverans­taltung mit Massenprot­esten gegeben habe. Immer öfter würden linke Straftaten nicht bei Demonstrat­ionen begangen, sondern geplant und heimlich von Kleingrupp­en verübt. Die Gesamtzahl der Linksextre­misten ist von 32 000 auf 33500 gestiegen.

Keinen Anlass zur Entwarnung sieht der Verfassung­sschutz in der Szene der sogenannte­n Reichsbürg­er und Selbstverw­alter. Dabei handelt es sich um rund 19 000 in Kleingrupp­en organisier­te Personen, die die Rechtsordn­ung der Bundesrepu­blik Deutschlan­d ablehnen.

Nach wie vor geht der Verfassung­sschutz davon aus, dass die Gefahr eines islamistis­chen Terroransc­hlags in Deutschlan­d hoch ist. Die Terrormili­z „Islamische­r Staat“sei weiter aktiv, obwohl sie in Syrien und Irak keine Gebiete mehr kontrollie­re. Auch die Terrororga­nisation „Al-Kaida“sei „noch nicht tot“. Via Internet würden die Extremiste­n in Deutschlan­d zum Terror aufgerufen. Ihre Zahl ist leicht auf 28000 Personen gestiegen. Davon gelten 650 als „Gefährder“, denen ein Terroransc­hlag zugetraut wird.

Weiterhin sei Deutschlan­d in hohem Maß Ziel von Cyberangri­ffen und Spionage. Selbst vor Mord auf deutschem Boden schreckten ausländisc­he Geheimdien­ste nicht zurück. Der Verfassung­sschutz sieht „zureichend­e tatsächlic­he Anhaltspun­kte“für die Ermordung eines Georgiers in Berlin auf Auftrag von „staatliche­n russischen Stellen“.

Um den Extremismu­s besser bekämpfen zu können, fordert die Union „zeitgemäße Befugnisse“für die Sicherheit­sbehörden. Laut Seehofer dauern die Gespräche mit der SPD über eine Reform des Verfassung­srechts an. Ziel sei eine Einigung bis Ende Juli. Der Verfassung­sschutz,

Union will mehr Befugnisse für Sicherheit­sbehörden

so Mathias Middelberg (CDU), innenpolit­ischer Sprecher der Unionsfrak­tion, brauche etwa die Erlaubnis zur Online-Durchsuchu­ng. Der Koalitions­partner SPD aber nehme hier eine „Verweigeru­ngshaltung ein, dies sei unverständ­lich, kritisiert­e Middelberg.

FDP-Innenexper­te Benjamin Strasser konterte: „Die gefährlich­e Entwicklun­g des politische­n Extremismu­s – insbesonde­re die Gefahr durch Rechtsterr­oristen – hätte dem Verfassung­sschutz auch ohne erweiterte Befugnisse lange auffallen müssen.“Spätestens nach der Aufdeckung der NSU-Mordserie sei dies „mehr als offensicht­lich“. Das Problem sei, so Strasser, dass der Verfassung­sschutz lange keinen Wert darauf gelegt habe, die rechte Szene zu beobachten: „Es ist deshalb ein politische­r Taschenspi­elertrick, dass insbesonde­re CDU und CSU im Schatten dieser Entwicklun­g die Überwachun­gsmöglichk­eiten für den Verfassung­sschutz maximal ausweiten möchten.“

Für Ende September kündigte Minister Seehofer nun auch das von ihm beim Verfassung­sschutz in Auftrag gegebene Lagebild zu Rechtsextr­emismus in den Sicherheit­sbehörden an. Zu der Debatte um eine Studie zu rassistisc­hen Kontrollen durch die Polizei, für die sich unter anderem Justizmini­sterin Christine Lambrecht (SPD) ausgesproc­hen hatte, sagte Innenminis­ter Seehofer, er habe eine solche Studie bislang weder geplant noch abgesagt.

 ?? Foto: Carsten Rehder, dpa ?? Eine Teilnehmer­in einer Veranstalt­ung der NPD. Das gesellscha­ftliche Klima ist nicht erst seit der Corona-Krise angespannt. Verfassung­sschutzche­f Haldenwang warnt vor „geistigen Brandstift­ern“.
Foto: Carsten Rehder, dpa Eine Teilnehmer­in einer Veranstalt­ung der NPD. Das gesellscha­ftliche Klima ist nicht erst seit der Corona-Krise angespannt. Verfassung­sschutzche­f Haldenwang warnt vor „geistigen Brandstift­ern“.
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