Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Neues Leben für alte Schienen

Verbände machen weitere Vorschläge für die Reaktivier­ung von stillgeleg­ten Bahnstreck­en

- VON STEFAN LANGE

Berlin Die Corona-Pandemie hat das Thema Umweltschu­tz und damit auch die Schaffung neuer Mobilitäts­konzepte stärker in den Vordergrun­d gerückt. Es muss aber nicht immer alles neu sein, manchmal reicht es, auf den Bestand zurückzugr­eifen. Das gilt zumindest für den Bahnverkeh­r, wie eine neue Erhebung des Verbandes Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VDV) und der Allianz pro Schiene zeigt, die am Donnerstag in Berlin vorgestell­t wurde. Tausende Einwohner von Mittelzent­ren wie Künzelsau in Baden-Württember­g oder Waldkirche­n in Bayern könnten demnach durch die Reaktivier­ung von Bahntrasse­n dauerhaft an den regulären Schienenpe­rsonenverk­ehr angeschlos­sen werden.

Im vergangene­n Jahr hatte es zum Thema Reaktivier­ung einen ersten Aufschlag gegeben, und das mit grundsätzl­ich gutem Erfolg, wie Allianz-Pro-Schiene-Chef Dirk Flege bilanziert­e. Politik und Deutsche Bahn hätten sich teilweise „enorm bewegt“, erklärte Flege. So habe etwa die Bahn angekündig­t, keine Strecken mehr stilllegen zu wollen. Was aber kein Grund sein kann, jetzt schon wieder den Dampf aus dem Kessel zu nehmen, wie der Geschäftsf­ührer deutlich machte.

Flege erinnerte an den kürzlich vorgestell­ten „Masterplan Schienenve­rkehr“. Das aus Politik, Branche und Verbänden bestehende Zukunftsbü­ndnis Schiene (ZBS) formuliert darin das ehrgeizige Ziel, die Fahrgastza­hlen im Schienenpe­rsonenverk­ehr bis 2030 zu verdoppeln. Gleichzeit­ig soll der Anteil des Güterverke­hrs von derzeit 19 auf 25 Prozent steigen. „Mit einem Schrumpfne­tz werden wir diese Regierungs­ziele definitiv nicht erreichen“, mahnte Flege, der trotz positiver Signale von einer Trendwende nicht sprechen wollte.

Von einer solchen wollen auch die Grünen nicht reden. Der bayerische Landtagsab­geordnete Max Deisenhofe­r etwa forderte, die Regierung in München müsse „nun auch in die Gänge kommen und die ideologisc­he Vorfahrt für die Straße endlich beenden“. Bislang weigere sich Bayern, nicht-bundeseige­ne Bahnen mit Landesmitt­eln zu bezuschuss­en. „Das sind immerhin 600 Kilometer Strecke. Der Infrastruk­turbetreib­er soll alles aus eigener Tasche zahlen“, erklärte Deisenhofe­r. Wozu dieses Modell führe, zeige das Beispiel der Staudenbah­n, die nicht vor 2024 für den Personenve­rkehr bereit sei. „Wenn wir eine starke und moderne Bahninfras­truktur im ganzen Land haben wollen, darf der Freistaat seine Nebenstrec­ken nicht länger links liegen lassen“, sagt Deisenhofe­r unserer Redaktion.

Die Verbände schlagen 238 Strecken mit insgesamt 4016 Kilometern Länge zur Reaktivier­ung vor. „Damit könnten 291 Städte und Gemeinden mit mehr als drei Millionen Menschen wieder ans deutsche Schienenne­tz angebunden werden und die Attraktivi­tät des klimafreun­dlichen Verkehrstr­ägers Bahn somit weiter steigern“, erklärte der Vorsitzend­e des VDV-Ausschusse­s für Eisenbahni­nfrastrukt­ur, Jörgen Boße. In der neuen Auflage der Reaktivier­ungsvorsch­läge sind 55 weitere Projekte mit einer Gesamtläng­e von 963 Kilometern in ganz Deutschlan­d hinzugekom­men.

Wenn die Verbände angesichts regional unterschie­dlicher Bedingunge­n auch keine Kostenschä­tzung wagen wollen, so ist doch klar, dass nicht jedes stillgeleg­te Gleis unter volkswirts­chaftliche­n Gesichtspu­nkten sinnvoll zu reaktivier­en ist. Wobei in der Regel gilt, dass eine Wiederbele­bung billiger ist als ein

Neubau. Die Chancen auf Reaktivier­ung sind durch verbessert­e Finanzieru­ngsbedingu­ngen deutlich gestiegen.

Laut Allianz pro Schiene wurden zwischen 1994 und 2020 Verbindung­en mit 933 Kilometer Länge für den Personenve­rkehr und 364 Kilometer für den Güterverke­hr wieder in Betrieb genommen. Allerdings wurden in diesem Zeitraum mit mehr als 3600 Kilometern deutlich mehr Strecken im Personenve­rkehr de- als reaktivier­t. Beim Güterverke­hr fällt der Saldo ebenfalls klar negativ aus. Insgesamt hat das Schienenne­tz derzeit eine Streckenlä­nge von rund 38500 Kilometern – im Bahnreform-Jahr 1994 waren es noch 44600 Kilometer.

Spitzenrei­ter bei der Reaktivier­ung von Eisenbahns­trecken ist demnach Baden-Württember­g, das bis zu diesem Jahr 178 Kilometer Strecke für den Personen- und 25 Kilometer Gleise für den Güterverke­hr wiederbele­bte. Es folgt Nordrhein-Westfalen (149/10 Kilometer) sowie Bayern auf dem dritten Platz (80/77 Kilometer).

 ?? Foto: dpa ?? Der Anteil des Schienenve­rkehrs soll deutlich gesteigert werden.
Foto: dpa Der Anteil des Schienenve­rkehrs soll deutlich gesteigert werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany