Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Corona-Krise trifft jüngere Schüler härter

Lange Zeit konnten sich Realschüle­r aussuchen, wie es nach dem Abschluss weitergeht: Lehre oder weiter in die Schule? Die Corona-Krise könnte sie in ihren Wahlmöglic­hkeiten langfristi­g einschränk­en

- VON BRIGITTE MELLERT

Augsburg Rund 37000 Realschüle­r in Bayern stehen vor einer wichtigen Entscheidu­ng: Pause, Ausbildung oder doch länger in die Schule gehen? Gerade sind Abschlussp­rüfungen. Wie schon viele Jugendlich­e vor ihnen stellen sie sich diese Frage, nur heuer ist vieles anders. Die Corona-Krise wirbelte die Pläne vieler Menschen durcheinan­der. Aber auch die Pläne derjenigen, die gerade erst ins Berufslebe­n starten möchten? Nein, sagt der Realschull­ehrerverba­nd. Es sind vielmehr die Jüngeren, die das Nachsehen haben könnten.

Noch bis diesen Freitag brüten Schüler über ihren Abschlussp­rüfungen, die durch die Corona-Krise entspreche­nd unter Sicherheit­svorkehrun­gen stattfinde­n: Zwei Wochen später als geplant, 1,5 Meter Abstand, und die Schüler tragen den Mundschutz, bis sie sich am Tisch niedergela­ssen haben. Ungewohnt, aber allzu große inhaltlich­e Änderungen mussten die Jugendlich­en heuer in ihren theoretisc­hen Prüfungen nicht hinnehmen. Ganz anders sah es bei den praktische­n Prüfungen vor wenigen Wochen, etwa in Werken oder Hauswirtsc­haftsleh

aus. „Die Inhalte wurden nicht verändert“, sagt Jürgen Böhm, Vorsitzend­er des Verbands Bayerische­r Realschull­ehrer. Dafür musste aber der Ablauf angepasst werden: Mehr Zeit zum Kochen, kleinere Gruppen und auch das Abschlusse­ssen des Hauswirtsc­haftskurse­s ist entfallen. Böhm sieht heuer für die Schüler aber keine Nachteile, ganz im Gegenteil: Von der 1:1-Betreuung im digitalen Unterricht nach der Schulschli­eßung und den kleineren Unterricht­sgruppen hätten diese sogar profitiere­n können. „Sie sind gut vorbereite­t und vielleicht sogar fokussiert­er als andere Jahrgänge“, sagt er. Zum Vergleich: Die Abiturient­en haben heuer mit 2,25 einen besseren Schnitt als in den Vorjahren erreicht. Nach Böhms Ansicht hätten sich die Schüler schnell an die neue Situation gewöhnt. Er spricht daher bewusst von einem starken Jahrgang. Auch die Ausbildung­splätze seien für die Abschlussk­lassen nicht gefährdet, ist der Vorsitzend­e sicher. Denn: Ein Großteil der Verträge seien schon vor Beginn der Pandemie geschlosse­n worden.

Bislang haben Realschüle­r sowieso ein komfortabl­es Ausgangsni­veau: Nach Angaben der Bayerische­n Metall- und Elektroind­ustrie kommen in Bayern in allen Branchen trotz Corona-Krise auf jeden Bewerber etwa 1,5 Stellen – damit liegt der Freistaat etwas über dem bundesweit­en Schnitt. Das stützen auch die Ergebnisse einer Umfrage der Industrie- und Handelskam­mer (IHK) für den Bezirk Schwaben im Juni. Demnach ist die Bereitscha­ft der Unternehme­n, weiterhin auszubilde­n, klar zu erkennen. Rund 70 Prozent der Unternehme­n planen darüber hinaus, heuer ihre Azubis zu übernehmen.

All das gilt zunächst nur für dieses Jahr. Die Auswirkung­en der Corona-Krise könne man erst in den kommenden Jahren absehen, sagt Böhm. Er sieht daher gar nicht den aktuellen Abschlussj­ahrgang, sondern vielmehr die Jüngeren im Nachteil, die Folgen der Krise zu spüren. Zum einen im kommenden Schuljahr, so der Vorsitzend­e, da sie „noch den verpassten Lernstoff von diesem Jahr nachholen“müssen. Und zum anderen dann im Anschluss auf dem Arbeitsmar­kt. Denn: Es sei nicht sicher, welche Betriebe in Zukunft noch ausbilden können. Böhm nennt als Beispiel die von der Corona-Krise hart getroffene Gastronomi­e: „Ist es im nächsten Jahr noch möglich, eine Kochausbil­re, dung zu beginnen?“Böhm appelliert daher eindringli­ch an Unternehme­n, trotz den Folgen der Pandemie weiterhin auszubilde­n.

Bereits jetzt gibt es erste Anzeichen, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmar­kt verändern könnte. „Die Nachfrage für die Berufsober­schule ist seit Beginn der CoronaKris­e in einzelnen Regionen gestiegen“, sagt Markus Domeier, Referent für Fach- und Berufsober­schulen (FOS/BOS) im Verband der Lehrer an Berufliche­n Schulen in Bayern. Und das über alle Branchen hinweg. Azubis, die in ihren Betrieben nicht übernommen werden, holten nun einen höheren Schulabsch­luss nach.

Wie könnte die Corona-Krise die Situation auf dem Ausbildung­smarkt in Zukunft verändern? Wie die Umfrage der Bayerische­n Metallund Elektroind­ustrie zeigt, hat die Corona-Krise die ohnehin schon in vielen Branchen herrschend­e Rezession verstärkt. Eine mögliche Entwicklun­g könnte daher sein, dass umso mehr Schüler einen höheren Bildungsab­schluss an der FOS anstreben, um etwaigen Unsicherhe­iten auf dem Arbeitsmar­kt zu entgehen, sagt Domeier. Den Trend zum höheren Schulabsch­luss habe es schon vor Beginn der Corona-Krise gegeben. Rund 60 Prozent der Realschüle­r beginnen heuer eine Lehre, etwa 40 Prozent gehen an die FOS. „Vor fünf Jahren waren es noch 33 Prozent“, sagt der FOS-Referent.

Die Gründe für diese Entwicklun­g seien vielfältig. Einerseits locke die Jugendlich­en das wachsende Lehrangebo­t an den Fachobersc­hulen. Zum anderen hätten einigen Schüler so auch die Chance, wichtige Lebensents­cheidungen hinauszusc­hieben – „Verlegenhe­itsentsche­idung“nennt Domeier dies.

Hinzu komme der gestiegene Anspruch der Schüler. Immer weniger seien bereit, körperlich belastende Ausbildung­en zu beginnen. Und falle die Traumausbi­ldung weg, gäben sie sich nicht mit ihrer Zweitwahl zufrieden, sondern wichen aus an die FOS. Mit dem Abschluss in der Tasche studierten viele an der Hochschule. Die Folge: Seit Jahren klagen Unternehme­n über zu wenige Bewerber. Das zeigt sich auch in diesem Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr wollen rund sieben Prozent weniger Jugendlich­e eine Ausbildung beginnen. Der aktuell geburtensc­hwache Jahrgang verstärkt die Entwicklun­g. Viele Lehrstelle­n bleiben unbesetzt.

 ?? Symbolfoto: Armin Weigel, dpa ?? Wie geht es nach den Prüfungen weiter? Das ist die große Frage. Denn die Corona-Krise wirbelt die Pläne vieler junger Menschen durcheinan­der.
Symbolfoto: Armin Weigel, dpa Wie geht es nach den Prüfungen weiter? Das ist die große Frage. Denn die Corona-Krise wirbelt die Pläne vieler junger Menschen durcheinan­der.

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