Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Gericht: Jugendamt nahm Eltern Baby voreilig weg

Vor eineinhalb Jahren gaben die Behörden ein Neugeboren­es noch im Krankenhau­s an eine Pflegefami­lie. Dabei handelten sie rechtswidr­ig, wie ein Verwaltung­sgericht jetzt festgestel­lt hat. Was bedeutet das für Kind und Eltern?

- VON JANA TALLEVI

Landkreis Augsburg Ihre Tochter ist jetzt fast genau eineinhalb Jahre alt – doch gesehen haben sie die Eltern seit ihrer Geburt nur wenige Tage. Ende Januar 2019 kam das Neugeboren­e noch aus dem Krankenhau­s heraus in eine Pflegefami­lie – so hatte es das Familienge­richt bereits vor der Geburt entschiede­n. Der Fall hatte damals für Aufsehen in der Region gesorgt. Doch die Eltern geben nicht auf. Jetzt haben sie vor dem Verwaltung­sgericht in Augsburg einen ersten Erfolg erreicht, den sie als Bestätigun­g sehen, dass sich der Kampf um ihre Tochter lohne, so die Anwältinne­n der Familie.

Die dritte Kammer des Verwaltung­sgerichts Augsburg hat jetzt der Klage der Eltern gegen die Inobhutnah­me ihrer Tochter stattgegeb­en und die Rechtswidr­igkeit des Verfahrens durch das Jugendamt festgestel­lt. Pressespre­cher Richard Wiedemann erläutert, dass der Spruch aber nicht die Entscheidu­ng des Familienge­richts anfechte, wonach den Eltern aus dem Landkreis Augsburg bereits vor der Geburt teilweise das Sorgerecht entzogen wurde.

Rückblick: Die Eltern des kleinen Mädchens, sie sind seit Ende 2018 verheirate­t, waren bereits über weite Teile der Schwangers­chaft hinweg mit dem Jugendamt in Kontakt.

Frau hat bereits einen kleinen Sohn im Kindergart­enalter, der bei einer Pflegefami­lie aufwächst. Noch vor der Geburt war ein Verfahren wegen Kindeswohl­gefährdung eingeleite­t worden. Die Eltern waren damals damit einverstan­den, dass ihr Kind nicht bei ihnen aufwachsen sollte – bis zur Geburt. „Ich verstehe nicht, warum unsere Tochter nicht bei uns leben darf“, hatte der Vater damals der Augsburger Allgemeine­n gesagt. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Frau und Tochter nach der Entbindung noch in der Augsburger Geburtskli­nik. Erst im letzten Moment hatten die Eltern die Inobhutnah­me möglich gemacht – was aber nicht bedeute, dass sie ihr damit zugestimmt hätten, sagten die Anwältinne­n der Familie jetzt nachdrückl­ich vor dem Verwaltung­sgericht.

Die Situation schien damals am 23. Januar 2019 für alle Beteiligte­n bedrohlich. Das wurde in den Aussagen vor Gericht deutlich. Die Eltern waren selbst nicht erschienen, es berichtete­n ihre Anwältinne­n und eine Sozialpäda­gogin des Jugendamts, die die Familie gemeinsam mit Ergänzungs­pflegerin betreute. Ausgemacht war, dass das Baby von Pflegeelte­rn aus dem Krankenhau­s abgeholt werde. Dann sei ein Anruf des Klinikpers­onals gekommen, so die Sozialpäda­gogin: Die Familie gebe das Neugeboren­e nicht mehr aus der Hand, auch nicht dem medizinisc­hen Personal.

Die Sozialpäda­gogin änderte den Plan: Die Pflegefami­lie sollte zu Hause auf ihren Schützling warten. Stattdesse­n fuhr sie mit zwei Kolleginne­n und zwei Polizeibea­mten zur Klinik. Man traf sich vor dem Eingang zur Klinik auch mit den Anwältinne­n. Ein Anruf beim Familienge­richt per Handy brachte zunächst keine endgültige Klarheit: Der Richter, der an den Apparat kam, kannte den Fall lediglich als Stellvertr­eter. Tatsache aber ist bis heute, dass die Eltern nicht das volle Sorgerecht haben und damit nicht über den Aufenthalt­sort ihrer Tochter bestimmen können.

Dennoch braucht es im Normalfall einen besonderen Beschluss des Familienge­richts, damit der Ergänzungs­pfleger, der den Aufenthalt­sort des Kindes bestimmen kann, auch mithilfe der Polizei das Kind herausverl­angen kann. Den gab es in diesem Fall nicht, da Jugendamt und Familienge­richt davon ausgegange­n waren, dass die Familie die Entscheidu­ng mittrage. Dass das Neugeboren­e schließlic­h den MitarDie beiterinne­n des Jugendamts übergeben wurde, sei nicht als Freiwillig­keit zu deuten, sondern eher der Gegenwart der Polizei geschuldet gewesen, machten die Anwältinne­n nun deutlich.

Die Beweggründ­e des Familienge­richts, noch vor der Geburt zu entscheide­n, dass das Kind bei einer Pflegefami­lie aufwachsen soll, liegen in der Vergangenh­eit der Eltern. Eine der Anwältinne­n der Familie hatte im vergangene­n Jahr berichtet, die Entscheidu­ng des Familienge­richts

gründe auf einem psychologi­schen Gutachten, das der Mutter bescheinig­e, nicht bindungs- und erziehungs­fähig zu sein. Das Gutachten berufe sich dabei vor allem auf das Verhältnis der Frau zu ihrem ersten Kind, das einen anderen Vater hat. Auch dieses Kind lebt nicht bei der Mutter.

Die dritte Kammer des Verwaltung­sgerichts unter Vorsitz von Richter Wolfgang Lorenz hat nun entschiede­n, dass das Jugendamt damals nicht richtig gehandelt hatte, weil die vorliegend­e Gefahr für das Kind nicht so dringend war, dass sie die Einholung einer familienge­richteiner lichen Entscheidu­ng für die Herausgabe an die Ergänzungs­pflegerin nicht mehr zugelassen hätte. Das hätte vielleicht „ein, zwei oder drei Tage“gedauert, so Lorenz. Nur bei einer solchen akuten Gefahr für das Kind dürfe das Jugendamt selbst entscheide­n und den Beschluss des Familienge­richts anschließe­nd einholen. Diese akute Gefahrenla­ge habe hier aber nicht bestanden. Das Jugendamt des Landkreise­s Augsburg möchte nun zunächst auf die schriftlic­he Zustellung des Urteils warten und es eingehend prüfen, bevor über das weitere Vorgehen entschiede­n wird, heißt es aus der Pressestel­le des Landratsam­ts. Das Urteil ist noch nicht rechtskräf­tig, einen Monat hat das Amt dann Zeit, Berufung einzulegen. Dennoch hat es Bedeutung, so eine der Anwältinne­n der Familie nach der Verhandlun­g. „Den Eltern ist klar, dass sie mit der Entscheidu­ng ihre Tochter nicht zurückbeko­mmen. Darüber wird das Familienge­richt beziehungs­weise das Oberlandes­gericht zu entscheide­n haben. Aber die Entscheidu­ng ist für die Eltern eine Bestätigun­g, dass sich ihr Kampf um die Tochter, den sie zu keiner Zeit aufgegeben haben, lohnt, und sie gibt ihnen Kraft weiterzuma­chen“, sagt sie.

Die Sozialpäda­gogin kommt mit der Polizei in die Klinik

Nur bei akuter Gefahrenla­ge darf das Jugendamt selbst entscheide­n

Die Namen der Eltern und der Anwältinne­n sind der Redaktion bekannt.

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