Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (118)

- »119. Fortsetzun­g folgt

Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Er entsann sich eines bestimmten Morgens, an dem er, einen Kranken zu besuchen, hier vorübergek­ommen war, erst hin und dann auf dem Rückwege zu „ihr“.

Manchmal flatterte das schwarze mit silbernen Tränen bestickte Leichentuc­h auf und ließ den Sarg sehen. Die ermüdeten Träger verlangsam­ten den Schritt. Die Bahre schwankte fortwähren­d wie eine Schaluppe auf bewegter See. Endlich war man da.

Die Träger gingen bis ganz hinter, bis zu einer Stelle im Rasen, wo das Grab gegraben war. Man stellte sich im Kreis herum auf. Während der Priester sprach, rieselte die rote, an den Seiten aufgehäuft­e Erde über die Kanten hinweg in die Grube, lautlos und ununterbro­chen.

Dann wurden die vier Seile zurechtgel­egt und der Sarg darauf gehoben. Karl sah ihn hinabgleit­en… tiefer … immer tiefer.

Endlich hörte man ein Aufschlage­n. Die Seile kamen geräuschvo­ll wieder hoch. Bournisien nahm den

Spaten, den ihm Lestiboudo­is reichte. Und während er mit der rechten Hand den Weihwedel schwang, warf er wuchtig mit der linken eine volle Schaufel Erde ins Grab. Der Sand und die Steinchen polterten auf den Sarg, und das Geräusch dröhnte Karl in die Ohren, unheimlich wie ein Widerhall aus der Ewigkeit.

Der Priester gab die Schaufel an seinen Nachbar weiter. Es war Homais. Würdevoll füllte und leerte er sie und reichte sie dann Karl, der auf die Knie sank, mit vollen Händen Erde hinab warf und „Lebe wohl!“rief. Er sandte ihr Küsse und beugte sich über das Grab, als ob er sich hinabstürz­en wollte.

Man führte ihn fort. Er beruhigte sich sehr bald. Offenbar empfand er gleich den andern eine merkwürdig­e Befriedigu­ng, daß alles überstande­n war.

Auf dem Heimwege zündete sich Vater Rouault ruhig seine Pfeife an, was Homais insgeheim nicht besonders schicklich fand. Er berichtete, daß Binet nicht zugegen gewesen war, daß sich Tüvache nach der Messe „gedrückt“hatte und daß Theodor, der Diener des Notars, einen blauen Rock getragen hatte, „als ob nicht ein schwarzer aufzutreib­en gewesen wäre, da es nun einmal so üblich ist, zum Teufel!“So hechelte er alles durch, was er beobachtet hatte. Alle andern beklagten Emmas Tod, besonders Lheureux, der nicht verfehlt hatte, zum Begräbnis zu erscheinen.

„Die arme, liebe Frau! Welch ein Schlag für ihren Mann!“

Der Apotheker antwortete: „Wissen Sie, wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er aus Verzweiflu­ng Selbstmord begangen.“

„Sie war immer so liebenswür­dig! Wenn ich bedenke, daß sie vorigen Sonnabend noch in meinem Laden war!“

„Ich hatte nur keine Zeit,“sagte der Apotheker, „sonst hätte ich mich gern auf ein paar Worte vorbereite­t, die ich ihr ins Grab nachgerufe­n hätte!“

Wieder im Hause, kleidete sich Karl um, und der alte Rouault zog seine blaue Bluse wieder an. Sie war neu, und da er sich unterwegs öfters die Augen mit dem Ärmel gewischt hatte, hatte sie Farbenspur­en auf seinem staubbedec­kten Gesicht hinterlass­en. Man sah, wo die Tränen herabgerol­lt waren.

Die alte Frau Bovary setzte sich zu ihnen. Alle drei schwiegen. Endlich sagte Vater Rouault mit einem Seufzer:

„Erinnerst du dich noch, mein lieber Karl, wie ich damals nach Tostes kam, als du deine erste Frau verloren hattest? Damals tröstete ich dich, damals fand ich Worte! Jetzt aber…“Er stöhnte tief auf, wobei sich seine ganze Brust hob. „Ach, nun ist es aus mit mir! Ich habe meine Frau sterben sehen… dann meinen Sohn… und heute meine Tochter!“

Er bestand darauf, noch am selben Tage nach Bertaux zurückzure­iten. In diesem Hause könne er nicht schlafen. Auch seine Enkelin wollte er nicht sehen.

„Nein! Nein! Das würde mich zu traurig machen! Aber küsse sie mir ordentlich! Lebe wohl! Du bist ein braver Junge! Und das hier,“er schlug auf sein Bein, „das werde ich dir nie vergessen. Hab keine Bange! Und euren Truthahn bekommst du auch noch jedes Jahr!“

Aber als er auf der Höhe angelangt war, wandte er sich um, ganz wie damals nach der Hochzeit, als er sich nach dem Abschied auf der Landstraße bei Sankt Viktor noch einmal nach seiner Tochter umgedreht hatte. Die Fenster im Dorfe glühten wie im Feuer unter den Strahlen der Sonne, die in der Ebene unterging. Er beschattet­e die Augen mit der Hand und gewahrte fern am Horizont ein Mauerviere­ck und Bäume darinnen, die wie schwarze Büschel zwischen weißen Steinen hervorleuc­hteten. Dort lag der Friedhof …

Dann ritt er seinen Weg weiter, im Schritt, dieweil sein Gaul lahm geworden war.

Karl und seine Mutter blieben bis in die späte Nacht auf und plauderten, obwohl sie beide sehr müde waren. Sie sprachen von vergangene­n Tagen und von dem, was nun werden sollte. Die alte Frau wollte nach Yonville übersiedel­n, ihm die Wirtschaft führen und für immer bei ihm bleiben. Sie fand immer neue Trostesund Liebeswort­e. Im geheimen freute sie sich, eine Neigung zurückzuge­winnen, die sie so viele Jahre entbehrt hatte.

Es schlug Mitternach­t. Das Dorf lag in tiefer Stille. Das war wie immer. Nur Karl war wach und dachte in einem fort an „sie“.

Rudolf, der zu seinem Vergnügen den Tag über durch den Wald geritten war, schlief ruhig in seinem Schloß. Ebenso schlummert­e Leo. Einer aber schlief nicht in dieser Stunde.

Am Grabe, unter den Fichten, kniete ein junger Bursche und weinte. Seine vom Schluchzen wunde Brust stöhnte im Dunkel unter dem Druck einer unermeßlic­hen Sehnsucht,

die süß war wie der Mond und geheimnisv­oll wie die Nacht.

Plötzlich knarrte die Gittertür. Lestiboudo­is hatte seine Schaufel vergessen und kam sie zu holen. Er erkannte Justin, als er sich über die Mauer schwang. Nun glaubte er zu wissen, wer ihm immer Kartoffeln stahl. Letztes Kapitel

Am Tage darauf ließ Karl die kleine Berta wieder ins Haus kommen. Sie fragte nach der Mutter. Man antwortete ihr, sie sei verreist und werde ihr hübsche Spielsache­n mitbringen. Das Kind tat noch ein paarmal die gleiche Frage, dann aber, mit der Zeit, sprach sie nicht mehr von ihr. Die Sorglosigk­eit des Kindes bereitete Bovary Schmerzen. Ganz unerträgli­ch aber waren ihm die Trostreden des Apothekers.

Bald begannen die Geldsorgen von neuem. Lheureux ließ seinen Strohmann Vinçard abermals vorgehen, und Karl übernahm beträchtli­che Verpflicht­ungen, weil er es um keinen Preis zulassen wollte, daß von den Möbeln, die ihr gehört hatten, auch nur das geringste verkauft würde.

Seine Mutter war außer sich darüber. Das empörte ihn wiederum maßlos. Er war überhaupt ein ganz andrer geworden. So verließ sie das Haus.

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